Pflegebetreuerisches Drama

skizziert von Klaus Klee

    

 

Inhaltsverzichnis:

 

"Zuerst komme ICH"

Zum besseren Verständnis

Lebenslinien

Ordnen, schreiben, lenken

Die Umzüge

Vater verlässt die Kraft

Witwenrituale und Legendenbildung

Jahrswechsel für Gepeinigte

 

Ein ganz normaler Tag

Einstimmung

Morgenstund´ hat Gold im Mund

Frei wie ein Vogel

Gebet für Sorglose

Frühstück am Familientisch

Anbiederung an den Teufel

Häusliche Sonderaufgaben

Im Spinnennetz

Verwandtschaftliches Feedback

Dringender Notruf

Mittagessen oder "der Kloß im Hals" 

Lebensläufe

Friedhofsbesuch theatralisch

Egomanisches Weltbild

Wasserkocher und Pulverkaffe

Besuch kommt

  Typ: Gesellschaftliches Ereignis

  Typ: Verwandtschaft

  Typ: Nette Bekannte

  Typ: Gut gezogene Besucher

  Typ: Sohn oder Schwiegertochter 

Abendbrot - letzte Mahlzeit des Tages

Hypochonders Nulltarif

Alles für die Nacht vorbereiten

Vom Sterben und vom Erben

Der Fernsehabend

Altersstarrsinn

Laute Grabesstille

Fazit

 

Harte Zeiten

Die sozial unverträgliche Kranke

Kurze Reise, langer Weg

Notfall oder Schauspielerei?

  Inszenierung eines Sturzes

  Morgens Notfall, mittags Friseuse

Der harte Schnitt

"Probesterben mit Wiederauferstehung"

Vom richtigen Maß

Dehydrieren kontra Harndrang

Das Lazarett

Hoffnung

Hohe Feiertage und Festtage

Egomanische Reflexion

Der schöne Schein

Narkose mit Folgen

Die Narkose

Verfügungen und Vollmachten

Der tägliche Trott

Big Bang aus heiterem Himmel

Das Kartenhaus

Späte Wende

Besuchsdienst

Das Ende des Dramas

DANKE

 

 

Zum besseren Verständnis

 

Sie beginnen gerade damit, die Ereignisse und Eindrücke eines Zeitraumes von ungefähr fünf Jahren zu lesen, die das Leben aller Beteiligten von Grund auf veränderten. Dies nieder zu schreiben, fiel mir nicht leicht, denn das Offenlegen dieser Ereignisse stellt bis zu einem gewissen Grad einen Tabubruch dar. Gerade aus diesem Grund werden aber ähnliche familiäre Dramen tot geschwiegen. Wie ich erfahren durfte, fühlten sich Betroffene nicht mehr allein mit ihrem Problem und das Gelesene half ihnen über ihre eigene Situation hinweg. Die große Resonanz derer, die dies bereits im Internet lasen, bewegte mich dazu, die gesammelten Eindrücke auch als Buch zu veröffentlichen. Der Lesestoff ist also all denen gewidmet, die sich in ähnlichen Situationen befinden oder diese bereits durchlebt haben.

 

Meine Mutter, die Hauptperson der Betrachtungen, verstarb im Januar 2013 im Alter von knapp 91 Jahren in einem Pflegeheim als Schwerstpflegefall. Nach einem schweren Schlaganfall war die häusliche Pflege nicht mehr möglich. Der gleiche Schlaganfall bewirkte allerdings auch, dass meine Mutter jegliches materielle Denken und die latente Streitlust ablegte. Über zwei Jahre lang besuchte ich sie jeden zweiten Tag im 12 Kilometer entfernten Pflegeheim, um sie zur Mittagszeit zu füttern. Während dieser Zeit entwickelte sich sehr heftig Demenz und die Kommunikation reduzierte sich Zug um Zug auf Worte der Zustimmung oder der Ablehnung eines Sachverhalts. Sehr wichtig war meiner Mutter plötzlich der körperliche Kontakt, den ich sie auskosten ließ. Wir waren uns zum Ende wieder sehr nahe und alles, was sie uns in ihrer Ausnahmesituation nach dem Tod meines Vaters angetan hatte, war verziehen. Es fällt mir heute schwer, sie deswegen zu diskreditieren. So möchte ich übriges dieses Buch auch nicht verstanden wissen. Das Kapitel "Ein ganz normaler Tag" entstand während der schlimmsten Phase dieser fünf Jahre. Mit dem Schreiben verarbeitete ich hautnah, was mich bedrückte, weil ich mit niemandem darüber reden konnte. Das half mir, jeden Tag neue Kraft zu schöpfen.

 

Es gibt Situationen, die man nur sehr schwer ohne seelischen Schaden zu nehmen bewältigen kann. In meinem Fall war es die Pflege meiner Mutter, die mich dabei täglich bis aufs Blut reizte und mich demütigte, wo dies möglich war. Manche Menschen, zu denen auch ich gehöre, neigen dazu, ihre Erregung darüber lautstark heraus zu lassen und hart und kompromisslos zu reagieren. Das erzeugt bei Außenstehenden gelegentlich einen falschen Eindruck. Wenn die gesellschaftlichen Regeln zwischenmenschlichen Verhaltens auf dem Prüfstand stehen und geltende Tabugrenzen berührt werden, bemerkt das Umfeld das natürlich sofort. Außen-stehende, die solche Eindrücke aufnehmen, wissen teilweise gar nicht, was sie davon halten sollen. Für sie gilt beim vermeintlichen "Opfer" beginnende Demenz als Entschuldigung. Aber gerade die in dieser Phase nicht vorliegende Demenz lässt nur noch latente Bösartigkeit als Deutung zu. Das kann oft aber nur von den pflegenden Angehörigen richtig eingeschätzt werden.

Viele Pflegende fragen sich, wann ihr Martyrium endlich beendet ist. Sicherlich kann man nicht beeinflussen, wann der Zeitpunkt des Ablebens des so unbequemen Gepflegten gekommen ist. Erschreckend ist jedoch, wenn Pflegende sich selbst in bedrückenden Situationen mit dem Thema Freitod befassen und wie falsch Außenstehende manche Situationen einschätzen, die zum Freitod infolge von Depressionen führen. An dieser Stelle soll jedoch nicht die Rede von Freitod, sondern von der Bewältigung solcher Situationen sein.

 

Die Wurzeln extremer Verhaltensweisen sind oft in der Erziehung und im anerzogenen Egoismus zu finden. Die folgenden Schilderungen sollen aufzeigen, wie ein durch eine falsche Erziehung geformter Mensch das Leben der nächsten Angehörigen verändert und förmlich in einen Strudel reißt, dem man als Angehöriger nur mit äußerster Anstrengung psychisch entrinnen kann.

 

Ich musste erst vierundsechzig Jahre alt werden, um meine Eltern richtig kennen zu lernen. Fast vierzig Jahre lang war der Kontakt jeweils auf nur wenige Stunden beschränkt, in denen mehr oder weniger natürliche Familienzeremonien gelebt wurden, wie sie an Feiertagen üblich sind. Alle anderen Kontakte waren unauffällig und ließen keine Rückschlüsse auf das zu, was ich erleben musste, als wir nach vielen Jahren räumlich wieder enger zusammenrückten. Ich verzichte bewusst auf Satire und überzeichnende Formulierungen, obwohl auch das vielleicht ein Mittel zur Bewältigung des Traumas sein könnte.

 


 

 

 

 

 

 

 

Ordnen, schreiben , lenken

 

Willst Du Gefühle nicht benennen, 

kannst Du Gedanken nicht vertreiben, 

musst Du deren Wesen erkennen 

und wohlbedacht sie nieder schreiben.

So ordnest Du, was Dich bedrückt, 

wägst gründlich ab das Für und Wider 

und wirst am Ende nicht verrückt, 

fühlst Dich vielleicht nur etwas müder.

Das Leben ist ein Auf und Ab, 

sogar zwischen allen Stühlen, 

es hält die Sinne stets auf Trab 

und spielt mit wechselnden Gefühlen.

 

 

Lebenslinien

 

Meine Mutter wurde im März 1922 als Tochter eines Schmiedemeisters aus der Rhön und einer jungen Frau aus gutbürgerlichem Haus geboren. Ihre Mutter verstarb allerdings noch im Kindbett. Eine Amme übernahm vorüber-gehend die Versorgung und nach einem Jahr heiratete der Vater eine fleißige Köchin, die dann auch die Mutterrolle übernahm. Noch im Kindesalter verstarb auch der Vater und die Stiefmutter war nun ebenfalls gezwungen, wieder zu heiraten. Ihr zweiter Mann, ein gut gestellter kaufmännischer Angestellter und nach außen hin frommer Mann hatte nur einen Fehler: Er wollte keine Kinder. So störte das angeheiratete Kind ganz erheblich und es war fortan der besonderen Strenge des Stiefvaters ausgesetzt. In dieser bedrängten Situation kümmerten sich tagsüber zwei ledige Großtanten so sehr um das Kind, dass es zwischen den konkurrierenden Parteien zunehmend die Orientierung verlor. Nachts schlief es bei den Stiefeltern, tagsüber war es bei den Großtanten. Es tendierte immer stärker zu der Seite, die ihr nur Gutes tat und entfremdete sich immer mehr von den Stiefeltern. Irgendwann war es dann soweit, dass die Stiefeltern ihre Stieftochter an die beiden alten Jungfern abgaben und sich fortan nicht mehr um sie kümmerten. Was folgte, war für meine Mutter das Leben einer Prinzessin, die man im Geist der Jahrhundertwende erzog. Hier wurde wahrscheinlich der Grundstein für das Verhalten des ganzen restlichen Lebens gelegt.

 

Die Tugenden Sauberkeit, Ordnung, Fleiß und Treue formten das spätere Lebens-Korsett. Getreu der Theorie, dass zu frühe Sauberkeit dazu führt, dass Menschen später nicht loslassen können und auch zum Geiz neigen, entfalteten sich Grundeigenschaften, die unter Anderem in die Egomanie führten. Den Großtanten ist ihre Herzensgüte und die gute Absicht zu verzeihen. Dass sich daraus ein Problem ergeben könnte, ahnten sie nicht. So konnte sich der Egoismus zunächst völlig unbemerkt entwickeln und ausprägen. Das Beste war für das Kind gerade gut genug und sie war es gewohnt, immer alles was sie sich wünschte zu bekommen. Zunächst ging das ja auch gut. Irgendwann drohten äußere Einflüsse, den Regelkreis zu stören. In den Anfängen des Nationalsozialismus gab es jedoch noch Möglichkeiten, dem Gruppenzwang der damaligen Zeit auszuweichen, um nicht im nationalsozialistischen Geist erzogen zu werden. Sie erlernte zunächst den Beruf der Schneiderin, besuchte die Haushaltungsschule und kam so um die übliche Dienstverpflichtung herum, bei der sie als Haushaltshilfe hätte dienen müssen, dabei aber auch Sozialverhalten hätte lernen können. Mit 20 Jahren wurde sie als Luftwaffenhelferin eingezogen und sie war in Frankfurt bei der Flugüberwachung im Einsatz. Abends schlief sie zuhause. Es war wie ein ganz normaler aber anstrengender Dienst, wenn man von den vielen Bombenangriffe dieser Zeit absieht, die das Leben gehörig erschwerten. Zu dieser Zeit verstarb auch noch eine der beiden Großtanten, die sehr schwer erkrankt war.

 

Als Einundzwanzigjährige heiratete sie 1943 ihren damaligen Kindheits- und Jugendfreund aus der Nachbarschaft, der noch ohne Berufsausbildung war, jedoch als Fluglehrer bei der Luftwaffe diente. Nach 9 Monaten stellte sich Nachwuchs ein. Im Bombenterror der Engländer und Amerikaner waren das Leben und die Kinderpflege besonders schwer zu bewältigen. Man saß entweder im Keller oder im Luftschutzbunker. Mein Vater kam nur einmal in dieser Zeit auf Urlaub, als sein Vater beerdigt wurde. Danach sah ihn meine Mutter erst nach seiner Kriegsgefangenschaft wieder, als ich bereits 5 Jahre alt war. Inzwischen war auch die zweite Großtante gestorben und meine Mutter lebte mit mir allein in einem zur Hälfte ausgebombten Haus. Abgemagert und ohne die Hilfe ihrer beiden Großtanten war sie entsprechend hilflos und sie schneiderte für wohlhabende Leute, die schon wieder am leichten Wohlstand teilnahmen. In dieser Zeit half ihr das anerzogene konservative Verhaltenskonzept. Sie hätte es jedoch auf vielfältige Art besser haben können. 1947 bekam sie das erste Lebenszeichen meines Vaters aus der Kriegsgefangenschaft, das ihr die Schwiegermutter allerdings über ein dreiviertel Jahr vorenthielt. Auf diese Art wurde sie das Opfer ihrer offen ausgelebten Abneigung gegenüber der in Saus und Braus lebenden Schwiegermutter, die sich auf diese Weise für diese ihr entgegengebrachte Abneigung revanchierte.

 

Mein Vater war nach seiner Rückkehr im Jahr 1949 wieder ein freier Mann, aber arbeitslos und ohne brauchbaren Beruf. Alles war ja auf den Endsieg ausgerichtet gewesen, der nun nicht eingetroffen war. So nahm er eine Arbeit auf dem Frankfurter Telegrafenamt an, die nicht sehr gut bezahlt war. Getreu ihrer Erziehung kümmerte sich meine Mutter um den Haushalt und ihr Kind, was natürlich auch bedeutete, dass sie im Sinne des Hauswirtschaftens das gesamte Einkommen verwaltete. Mein Vater bekam ein bescheidenes Taschengeld, mit dem er keine großen Sprünge machen konnte. Er rauchte nicht und Gastwirtschaften kannte er nur von außen. Zusammen nahmen sie auch an keinen der ortsüblichen Veranstaltungen teil und sie engagierten sich nicht in Vereinen. Alles drehte sich damals nur um materielle Dinge, wobei die gesellschaftliche und soziale Entwicklung auf der Strecke blieb. Ihre Schwiegermutter verkaufte nach und nach einen großen Teil des Familienvermögens und veräußerte ein Grundstück nach dem Anderen, weil sie von Spielsucht befallen war. Mein Vater und dessen Schwester waren jeweils zu einem geringen Teil am Erbe beteiligt und so fiel immer wieder mal ein Betrag ab, der sofort in Möbel, den Hausstand sowie den Ausbau der Mietwohnung gesteckt wurde. Der Rest wanderte auf ein Sparkonto, das bereits für das Alter vorgesehen war. Ich wuchs spartanisch, isoliert und nahezu keimfrei auf. Mein größtes Problem war meine Mutter - und das schon im Kindesalter. Ordnung und übertriebene Sauberkeit nahmen mir meinen Lieblingssport Fußball. Ich musste in einen Schwimmverein eintreten, weil man von dort bekanntlich sauber nach Hause kommt. Vielseitig talentiert führte ich ein Schattendasein. In der Schule fiel ich als gewitzter Lausbub auf, der so manchen Streich ausheckte. Da viele dieser Streiche heftig waren und in Windeseile die Runde machten, fühlte sich meine Mutter geradezu zur Bestrafung verpflichtet. Da sie hierbei aber meist versagte, musste das mein Vater übernehmen, wenn er von der Arbeit nach Hause kam. So wurde meine Mutter in meinen Augen permanent zur "Petze" und mein Vater zum "Schläger". Er verwendete einen Kleiderklopfer mit 12 Lederriemen, den er aus der Kriegsgefangenschaft mitgebracht hatte. Unter hämischen Anfeuerungsrufen meiner Mutter wurde ich "abgeschwartet", wie es mein Vater damals nannte. Meine Reaktion war generell ein schrilles Lachen, das meinen Vater zur Weißglut brachte. Wenn sich alle wieder beruhigt hatten, wollte sie wegen der Leute natürlich wieder die besorgte Mutter spielen. Ich zeigte ihr aber stets die kalte Schulter und offene Ablehnung.

 

Meine Mutter und ich hatten also ein sehr gespanntes Verhältnis. Ihre schlichte Einfalt und der manische Zwang zu Sauberkeit und Ordnung passten nicht zu meiner Art. Weil sie in unserer Wohnung aus Gründen der Sauberkeit keine meiner wenigen Freunde duldete, beschäftigte ich mich mit mir selbst. Ich griff zu sehr außergewöhnlichen Mitteln, um spielerisch meinen Verstand zu schärfen. Ich spielte Schach gegen mich selbst, indem ich die bestmöglichen Spielzüge für jede der beiden virtuellen Parteien ergründete und anwandte. So trainierte ich nebenbei den Gerechtigkeitssinn, der mein ganzes späteres Leben beeinflussen sollte. Meine Mutter tat das mit Bemerkungen ab, wie "Spielst du wieder gegen dich selbst? - Dann wirst du ja wieder gewinnen."

 

Der Wechsel ins Gymnasium war obligatorisch und für meine Lehrer ein logischer Schritt. Dort holte mich jedoch die politische Vergangenheit und der kurzsichtige Geiz meiner Eltern ein, die mit ihren geringen finanziellen Beträgen zum Schülerfond des Gymnasiums auffielen. Mein Übermut als Folge zu leichten Lernens führte obendrein zu Störungen des Schulablaufs und ich musste auf vielseitigen Druck das Gymnasium verlassen. Der Weg zurück in die Grundschule war für mich kein Problem, denn ich war fest davon über-zeugt, dass ich dennoch mein Ziel erreichen würde. Für meine Eltern gab es nie ein Problem mit meiner Lernfähigkeit. Man wollte mich in die höhere Handelsschule schicken, auf der man mich auch schon angemeldet hatte. Ich hatte mir allerdings in den Kopf gesetzt, Maschinenbauingenieur zu werden und suchte mir eine Lehrstelle als Maschinenschlosser, wo man mich unter über 300 Bewerbern auf Anhieb nahm. Das Unterschreiben des Lehrvertrags war die erste Niederlage, die meine Eltern als Erzieher erlitten. Über den Zweiten Bildungsweg kam ich meinem eigenen Ziel immer näher. Meine Eltern konnten dies nur passiv begleiten.

Mein Vater wechselte beruflich wieder an unseren Heimatort, um dort Dienst am Postschalter zu verrichten. Damit war er natürlich stets in häuslicher Nähe und er übernahm zu Pausenzeiten das Einkaufen und allerlei Arbeiten rund ums Haus. Wir wohnten immer noch in dem inzwischen wieder aufgebauten Haus, das nahen Verwandten gehörte. Wir wohnten im Dachgeschoss, weil die Verwandtschaft aus der sowjetischen Zone nach Hessen übergesiedelt war und natürlich die besten Räume des Hauses beanspruchte. Fortan führten meine Eltern das Leben von Hausangestellten. Sie wurden von den hohen "Herrschaften" nach Belieben eingespannt. Ich empfand, dass sich meine Eltern erniedrigten und sich auch noch in ihrer Rolle gefielen. Es wurden im Sommer Berge von Obst gepflückt und verarbeitet, Wäsche gewaschen und gebügelt, die Wohnung geputzt und für die Herrschaften gekocht. Der ehemalige Fluglehrer durfte die Verwandten am Wochenende mit deren OPEL-Kapitän chauffieren. Meinen Vater erlebte ich damals als ausgesprochenen Dienstbotengeist, von meiner Mutter gegängelt und überwacht. Meine Mutter gefiel sich dagegen in der Haushälterinnenrolle, während andere Mütter arbeiten gingen und zum gemeinsamen Wohlstand beitrugen. Für meinen Vater war das Leben zur Einbahnstraße ohne Höhen und Tiefen geworden. Urlaube richteten sich nur nach den Bedürfnissen meiner Mutter und auch der gesellschaftliche Umgang war stark reglementiert.

 

Als ich meine Ausbildung beendet hatte, war ich Technischer Kaufmann mit zwei abgeschlossenen Berufsausbildungen und der Technischen Fachschulreife. Alles hatte ich mir selbst erarbeitet und damit die Ziele erreicht, die ich mir steckte. Dann kam meine Einberufung zur Bundeswehr. Hier begann ein erneutes Martyrium, denn meine Mutter konnte die Trennung nicht überwinden. Dabei erlebte ich gerade meine bis dahin spannendsten Jahre. Als Bordmechaniker ausgebildet diente ich bei den Heeresfliegern und konnte mir einen Traum erfüllen: das Fliegen mit Hubschraubern. Auch an den Wochenenden ließ ich mich gern zum Dienst einteilen, weil gerade da die interessantesten Flüge anstanden. Ob bei den Formel 1-Rennen auf dem nahen Nürburgring oder auf Großflugtagen, es war immer spannend. Genau dann aber kreuzten meine Eltern in der Kaserne auf, um mich zu besuchen. Meine Mutter zwang meinen Vater immer wieder zu diesen Fahrten. Er konnte dabei allerdings mit seinem VW durch die Lande gondeln - weiter, als er es sonst gedurft hätte. Die Krönung war, als beide mich an meinem Geburtstag mit einer Torte auf einem Nato-Manöver besuchten und auch tatsächlich eine halbe Stunde mit mir Kaffee trinken durften. Ich war anschließend das Gespött der ganzen Einheit. Meine Mutter interessierte das jedoch nicht, denn es galten immer nur ihre Bedürfnisse.

 

Ich warf als junger Mann natürlich auch ein Auge auf Frauen. Insgesamt fünf Beziehungen scheiterten am Einfluss meiner Mutter, die nicht ertragen konnte, dass sie mich mit anderen Frauen teilen sollte. Sie intrigierte, wo es nur ging. Entweder leistete sie Wunschbeziehungen Vorschub oder sie sabotierte andere Beziehungen nach Herzenslust. Als ich dann endlich die in ihren Augen Richtige gefunden und geheiratet hatte, dauerte der stressige Abnabelungsprozess über ein Jahr an. In dieser Zeit spielten sich unglaubliche Szenen ab. Bereits nach einer Woche reisten uns meine Eltern in den Hochzeitsurlaub nach, um gemeinsam Erlebnisse zu planen. Das Ganze hatte etwas von einer systematischen Verfolgung und Einmischung. Später zogen sie sogar in unseren Wohnort. Nur mit Mühe konnte die für uns erforderliche Distanz aufrecht erhalten werden.

 

Es folgte eine Zeit, in der wir die Beziehung ohne rechte Freude aufrecht erhielten, weil der spärliche Kontakt immer wieder von Vorwürfen und Zerwürfnissen begleitet war. Parallel dazu stellten sich meine Eltern zunehmend auf ihre neue Zweisamkeit ein und gestalteten nun auch mal Urlaube, die jedoch kaum weiter als 100 Kilometer führten. Als mein Vater dann in Rente ging, kam es nochmals zu Veränderungen, weil beide nun 24 Stunden zusammen waren und er in den Haushalt integriert werden musste. Die Arbeitsteilung führte zu einer Art Rollenverteilung, die sich immer stärker ausprägte. Mit 60 Jahren startete er praktisch eine zweite Karriere als Haussklave. Mein Vater sprang, wenn sie nur mit den Fingern schnippte und er ließ immer mehr über sich ergehen, ohne dagegen aufzubegehren.

Sie lebten in einer Eigentumswohnung im dritten Stock mit herrlichem Ausblick. Zwei Räume waren durch eine herausgenommene Wand miteinander verbunden, so dass ein riesiges Wohnzimmer entstand. Kurios war, dass beide Zimmer mit jeweils einer kompletten Wohnzimmereinrichtung in zwei grundverschiedenen Stilrichtungen ausgestattet waren. Mal saßen sie hier und mal dort und immer sah es aus, wie in einer Möbelausstellung. Gestickte Tischdecken, Kissen mit dem obligatorischen Knick und alles so dekoriert, dass es im Gebrauch minimiert war. So gab es noch nicht einmal einen Platz, an dem mein Vater eine Zeitung hätte lesen können. Ihm blieb dazu nur das Klosett oder der Balkon. Hobbys kannte mein Vater nicht, schon gar nicht welche, bei denen auch Dreck anfällt oder die zeitlich befristet für Unordnung hätten sorgen können. Jeder Wochentag war mit Reinigungsarbeiten angefüllt. Das Leben war in Abläufen erstarrt und nur der wöchentliche Einkaufstag war für meinen Vater eine willkommene Gelegenheit, den "Freigang" zu genießen. Die Fixpunkte der Woche waren für meine Mutter der Mittwoch, an dem die Putzhilfe kam, der Freitag, an dem sie badete, der Samstag, der dem Frisör gehörte und der Sonntag, an dem man sich nach guter christlicher Tradition ausruhte. So gingen die Jahre ins Land und sie überschritten beide so das Alter von achtzig Jahren. Im Laufe der Zeit hatte sich der Gesundheitszustand meiner Mutter verschlechtert und ihr wurde die Pflegestufe 2 zugesichert. Sie besaß einen Schwerbeschädigtenausweis, der 100% auswies und sie schluckte täglich sechzehn Tabletten. Damit sicherte sie sich gegenüber meinem Vater das Vor-recht, gepflegt zu werden.

Anlässlich der Kontakte, die wir pflegten, war diese Rolle deutlich spürbar und ich hatte immer den Eindruck, dass das meinem Vater eigentlich nichts ausmachte. Auch wenn er mehrmals täglich wegen ihrer Vergesslichkeit die vier Stockwerke bis zur im Keller stehenden Gefriertruhe zu bewältigen hatte, hörte man kein Klagen. Er hatte seine ureigensten Bedürfnisse auf ein Minimum reduziert. In dieser Zeit hatten wir das eine oder andere Zerwürfnis, weil meine Frau und ich andere Ansichten vertraten als es den beiden Herrschaften genehm war. Dabei kannte die Sturheit meines Vaters keine Grenzen. Er war kein Kämpfer, eher ein Motzkopf. Wenn es ein Problem gab, dann waren sich meine Eltern stets einig in ihrer Welt der Urteile und Vorurteile. Dabei legten sie sich eine ganz spezielle Wahrheit zu, die sie zur Messlatte erkoren: · Wir sind 80 Jahre alt geworden und wir haben immer so gelebt, wie wir gelebt haben. · Uns geht es gut. Also haben wir richtig gelebt!

Das Fatale daran war, dass sie davon ableiteten, dass alle Menschen ihres Umfelds, die anders lebten, den falschen Weg gehen würden. Und das hielten sie ihnen auch vor.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Umzüge

 

Als ich in den Ruhestand ging, wohnte ich noch in einer Mietwohnung eines Zweifamilienhauses. Die geringe Miete war zwar recht nett, dafür hatte ich jedoch die ganze Arbeit rund um das Haus auf dem Buckel. In den fast fünfundzwanzig Jahren, die wir mit der alten Dame in einem Haus lebten, war immer wieder die Rede davon, dass wir das Haus einmal kaufen würden. Dafür hatte die Dame jedoch kein offenes Ohr. Als es soweit war, dass ich mich entscheiden musste, wie ich meinen Ruhestand gestalte, rückten wir von der Absicht ab und suchten eine Eigentumswohnung. Diese war auch schnell gefunden und weil es vom Zuschnitt her eine Traumwohnung war, schlugen wir zu.

 

Bei der Finanzierung kam uns das ererbte Kapital einer Großtante sehr zugute, das zusammen mit unseren ersparten Mitteln die Anschaffung und Renovierung der 5-Zimmer-Wohnung mit zwei Bädern und zwei Balkons, zwei Kellerräumen, Garage und Abstellplatz in recht guter Lage ermöglichte. Damit war das geerbte Geld gut angelegt und dauerhaft sichergestellt, dass wir zukünftig in eigenen Räumen leben können. Die Renovierung dauerte fast fünf Monate, weil ich bis auf die Bäder und das Elektrische alles selbst erneuerte. Als die Wohnung fertig war, hatte ich fünf Kilo abgenommen. In der Weihnachtswoche zogen wir ein. Zuvor hatten wir in Wochenetappen Zimmer für Zimmer umgezogen und gleichzeitig die alten Räume sowie den Keller geräumt. Weihnachten verbrachten wir bereits in der neuen Wohnung. Was folgte, war die Vervollständigung der Wohnung mit Kleinmöbeln und Gardinen. Danach schloss sich eine Phase an, in der ich die Ruhe genoss. Der Umzug war uns nicht schwer gefallen. Als wir alles um uns herum neu ordneten, verspürte meine Mutter den unbändigen Drang, neue Poltermöbel anzuschaffen. Damit stieß sie meinen Vater in eine gewaltige Krise, da er sich nur schwer von alten Sachen trennen konnte. Die alte Stilmöbelgarnitur sollte weichen, um für eine geräumige Liege Platz zu machen. Als die Liege geliefert wurde, mussten eine Sitzgarnitur und ein Kacheltisch weichen. Als alles aus dem Haus war, kam bei ihm so gar keine Freude über den neuen Kauf auf und er litt wie ein Hund. Dabei richtete sich sein Ärger auch gegen meine Frau und mich, weil wir ihre Möbel nicht übernehmen wollten. Sie hätten so gar nicht zu unseren Möbeln gepasst.

 

Nachdem wir bereits zwei Jahre in unserer neuen Wohnung waren, ergab es sich, dass die Nebenwohnung frei wurde. Uns kam gleich in den Sinn, dass das die richtige Wohnung zur Pflege sei, wenn ein Elternteil einmal sterben würde. Da meine Eltern genug Ersparnisse hatten, konnte ich meinen Vater vom Kauf als Geldanlage überzeugen. Er dachte auch sogleich an die Mieteinnahme, die eine höhere Rendite versprach als der seinerzeitige Zinssatz. Wieder stürzte ich mich vier Monate lang in Renovierungsarbeiten. Nachdem das Bad fachmännisch erneuert war und man auch in den anderen Räumen sah, wie die Wohnung einmal aussehen würde, kam der Moment, an dem sich meine Eltern für Tapeten und Fußböden entscheiden mussten. 

 

Umso schöner die Wohnung wurde, umso mehr wuchs der Wunsch, die Wohnung selbst zu bewohnen, zumal sie im ersten Stock lag und ein Aufzug vorhanden war. Als die Entscheidung gefallen war, kamen die Feinarbeiten. Auch eine neue Einbauküche sollte installiert werden. Wenn man noch einmal umzog, dann sollte es sich ja auch lohnen. Irgendwann stand dann der Umzug an, der von einer Fachfirma vorgenommen wurde. In all den Jahren hatte sich so viel angesammelt, dass dazu 76 Umzugskartons und 8 große Kleiderboxen benötigt wurden. Einer der Wohnzimmerschränke wurde sogar wegen seiner Überlänge vom 3. Stock über den Balkon abgeseilt und auf dem gleichen Weg am neuen Ort nach oben gehievt. Das Schlimmste war geschafft. In der alten Wohnung blieb jedoch der zweite Wohnzimmerschrank zurück. Zunächst versuchten wir, den Schrank zu verkaufen. Als das nicht klappte, sollte er verschenkt werden. Niemand wollte das gute Stück, weil er einfach in keine Stilrichtung passte und auch noch aus dunklem Holz war. Die Depression meines Vaters prägte sich immer mehr aus und wir überlegten uns, wie wir den Zustand abmildern könnten. Dabei kamen wir auf die unsinnige Idee, den Schrank in zwei Hälften in unserer Wohnung in zwei verschiedenen Zimmern aufzustellen. Nun hatten wir die beiden dunklen Möbelstücke, die so gar nicht zu unserer Einrichtung passten. Dafür ging es meinem Vater wieder merklich besser. In gleichem Maß wuchsen die Anspannungen zwischen meiner Frau und mir, die wegen der Möbelsituation todunglücklich war.

 

Die Umzüge gingen mit einer Reihe von Veränderungen einher, die uns bereits erahnen ließen, was einmal auf uns zukommen würde. Doch - die Hoffnung war stärker und wir glaubten an eine schnelle Eingewöhnung. Mit jedem Wort betonte meine Mutter, dass sie sich aus räumlicher Sicht verschlechtert habe. Auch sei in der alten Wohnung der Ausblick schöner und die Leute netter gewesen. Überhaupt sei das alles eine Fehlentscheidung. Mein Vater musste dies den ganzen Tag über sich ergehen lassen. Während alle Freunde, Verwandten und Bekannten das Konzept des Nebeneinander-Wohnens lobten und die Wohnung toll fanden, kam so keine rechte Begeisterung auf.

 

 

Vater verlässt die Kraft

 

Nach einem Jahr in der neuen Wohnung hatte sich mein Vater mit einigen Hausbewohnerinnen angefreundet, die ihn "goldig" fanden. Stets mit einer Schürze bekleidet war er der Inbegriff des Hausmannes. Mit zunehmendem Alter packte ihn tagsüber eine Müdigkeit, die auffällig war. Schließlich begann sein Tag um 5 Uhr 30 und endete nicht selten erst kurz nach Mitternacht. Wenn meine Mutter Krämpfe in den Beinen hatte oder sie sich sonst wie unwohl fühlte, wurde er geweckt und die Nacht war für ihn praktisch um. Kein Wunder, dass er bereits um die Mittagszeit sein Pulver verschossen hatte.

 

Meine Mutter hatte in den letzten Jahren fast vollständig die Worte "Danke" und "Bitte" aus ihrem Wortschatz gestrichen. Was sie wollte, wurde gefordert oder als Versäumnis meines Vaters moniert, damit er sich stets im Unrecht fühlte. Begleitet wurden ihre ständig neuen Marschbefehle mit permanenten Zustandsberichten. Ihre Schmerzen, ihr Zustand, ihr Leben und alles Mögliche waren stets "grauenhaft" und man konnte bald nicht mehr unterscheiden, was grauenhafter war als ihr ständiges Nörgeln und Wehklagen. Mein Vater leistete kaum Gegenwehr. Er folgte ihren Anweisungen oder er überhörte sie, wenn sie in einem monoton klingenden Redeschwall eingebettet waren. Er hatte auf "Durchzug" geschaltet.

 

Seitdem wir Tür an Tür wohnten, sahen wir uns natürlich mehrmals täglich und ich bekam ein genaueres Bild von der Drangsal, der mein Vater ausgesetzt war. Wehrte er sich nicht und ließ alles widerspruchslos über sich ergehen, so ergriff ich für ihn Partei. Insgeheim freute er sich, wenn ich meiner Mutter so richtig die Meinung geigte. Er durfte nur nicht daran denken, was auf ihn wartete, wenn ich ihre Wohnung wieder verlassen hatte. Dann ergoss sich eine Schimpfkanonade über ihn, die sich gewaschen hatte. Auch wenn andere Personen zugegen waren, waren Ausdrücke wie "Rindvieh", "Drecksack" oder "Arschloch" an der Tagesordnung und wenn die Wut auf dem Siedepunkt war, bekam er auch schon mal eine Ohrfeige. All das ertrug er geduldig.

 

Nun wurden die Donnerstage immer wichtiger, die für seine Einkäufe reserviert waren. Von 10 bis 13 Uhr waren wir beide auf Achse. Dabei führte uns unser Weg in den Aldi, den Real-Markt, zum Bäcker und zum Metzger. Den Einkaufswagen benutzte er als Gehhilfe und von Woche zu Woche dauerten die Einkäufe länger. Dabei konzentrierte er sich nicht nur auf das, was auf dem Einkaufszettel stand, sondern er sah sich auch alles an, was er nicht mitbringen durfte. So manches hätte er persönlich gern gekauft, gegessen, getrunken oder ganz einfach nur genossen. Es stand ihm aber als Haussklave nicht zu. Manches fiel aber auch seiner Sparsamkeit zum Opfer. Es wurde gegessen und getrunken, was man schon immer konsumierte. Dafür hatte er völlig freie Hand bei den Putzmitteln, die in großen Mengen eingekauft wurden. Dabei fiel nicht nur die Vielfalt, sondern auch die Besonderheit jedes einzelnen Mittels auf. So wurde für das Wasser der Waschmaschine generell Calgon gekauft, obwohl wir im Ort sehr weiches Wasser haben. In den Trockner kamen Zusatztücher und in die Waschmaschine Weichspüler. Von Stahlfix bis Sagrotan war alles im Einsatz und die Waschmittel gab es in allen Variationen für fast jeden Zweck. Pronto für die Möbel und allerlei Polituren durften auch nicht fehlen. Alles zusammen war eine Umweltverschmutzung, die zum Himmel schrie. Wenn wir wieder zuhause waren, wich seine Gelöstheit und er war wieder im alten Trott. Kaum hatte er die Einkäufe in den Schränken verstaut, überfiel ihn wieder seine Müdigkeit. Meine Mutter verstand es aber immer wieder, ihn aufzuscheuchen und an immer neue Aufgaben zu dirigieren. Die Bügelwäsche war seine heimliche Waffe. Meine Mutter hasst nichts mehr, als ungebügelte Wäsche. Was gewaschen und getrocknet war, musste noch am selben Tag gebügelt werden. Nun verstand er es, das Waschen und das Bügeln zeitlich so zu legen, dass er dabei Fußballspiele oder die Bundesligaberichterstattung sehen konnte. In der Küche hatte ich ihm einen kleinen Flachbildschirm installiert, vor dem er dann das Bügelbrett aufstellte und sitzend beides miteinander verbinden konnte. Seine sehr verlangsamte Bügelweise war halt den Gegebenheiten angepasst und zog sich je nach Fußballberichterstattung in die Länge.

 

Auch für Boxen interessierte er sich sehr, was er in der alten Wohnung allerdings nie sehen durfte. Das konnte er aber jetzt vor dem zweiten Fernseher. Da die Kämpfe stets erst nach 22 Uhr stattfanden, fiel das genau in die Zeit, zu der sich meine Mutter im Bad aufhielt, um sich perfekt für die Nacht zu präparieren. Verschiedene kosmetische Cremes und Schmerzsalben wechselten einander ab, bis zum Schluss das Haarnetz aufgesetzt wurde. Ständig rief sie während den Übertragungen meinen Vater zu sich, um einige Handreichungen zu fordern, so dass er die wichtigsten Szenen gar nicht mitbekam. Zufrieden war sie erst, als der Fernseher aus war. Hier konnte mein Vater gelegentlich auch mal böse werden. Es half ihm aber nichts, denn es zählte nur der Wille meiner Mutter. Unzählige Male erzählte er mir, was sich wieder abgespielt hatte und dass ihm alles gewaltig auf den Geist ging. Er schob aber alles auf die Krankheit meiner Mutter. Eines Tages versagten ihm die Beine und er fiel in der Küche zu Boden. Dabei schlug er so heftig auf die Steinfliesen, dass er starke Prellungen hatte. Das kostete uns einen ganzen Tag im Krankenhaus, ohne dass der Befund etwas dramatisches aussagte. Man machte sich vielmehr Gedanken darüber, warum er denn hinfiel. Einige kurze Beobachtungen und Untersuchungen führten dann zum Schluss, dass ein Herzschrittmacher vonnöten sei. Ein fataler Irrtum, denn er litt in Wirklichkeit unter chronischer Entkräftung infolge physischer Überforderung. Den Herzschrittmacher ließ er sich dennoch einbauen. Danach war aber weder die Müdigkeit weg, noch besserte sich sein körperlicher Zustand. Er schlief nur besser. Es dauerte ein ganzes Jahr, bis sich seine Schmerzen vom Sturz gelegt hatten. Nach dem Einbau des Herzschrittmachers durfte er nicht mehr über Schulterhöhe heben. Das engte seinen Wirkungskreis deutlich ein.

Alle 6 Wochen wurden die Ehebetten komplett neu bezogen, nachdem alle drei Wochen die Laken gewechselt worden waren. Zu diesem Anlass wurden die gesamte 6 Meter lange Schrankwand des Schlafzimmers und die Sprungrahmen feucht abgewaschen sowie die Bettkästen gründlichst gesäubert. Das war trotz Putzhilfe die Arbeit meines Vaters. An diesen Tagen war er total erschöpft, sodass ich ihm immer wieder dabei half. Meine Mutter verfolgte das gnadenlos - es musste sein! Natürlich wurde auch sofort gewaschen, getrocknet und anschließend noch gebügelt. So ein Tag ging für meinen Vater bis nach Mitternacht. Irgendwann waren wir morgens zusammen in ihrer Wohnung. Meine Frau unterhielt sich mit meiner Mutter, ich machte die Betten, wie ich es täglich machte und mein Vater war in der Küche mit dem Kaffeegeschirr beschäftigt. Plötzlich ein lauter Schlag und mein Vater lag am Boden. Er hatte höllische Schmerzen und er meinte: "Jetzt ist alles aus - ich habe mein Genick gebrochen!" Wir verständigten sofort den Hausarzt, der auch nur wenige Minuten später eintraf. Dieser rief sofort den Notarzt und wies meinen Vater ins Krankenhaus ein. Was an diesem Tag folgte, war unbeschreiblich. Von 10 Uhr bis um 21 Uhr wurde er immer wieder untersucht, geröntgt, CTs angefertigt und dazwischen hieß es immer wieder "warten". Ohne jeden Befund legte man ihn abends in die Neurologie, um den Ursachen des Sturzes nachzugehen. Eine Halskrause hielt man nicht für nötig. Es kam sogar eine Physiotherapeutin, die mit ihm Bewegungsübungen machen wollte. Wegen zu großer Schmerzen wurde die Behandlung abgebrochen. Nach vier Tagen entschloss sich der Chefarzt nochmals zu einer CT über die gesamte Wirbelsäule hinweg, wobei man den gebrochenen Halswirbel fand. Daraufhin wurde er in die Universitätskliniken verlegt, weil man dort besser eingerichtet ist. Inzwischen war aber bereits eine Thrombose und eine Lungenentzündung im Anmarsch. Die Verabreichung von blutgerinnungshemmenden Mitteln schloss eine Operation aus. Man suchte mit immer neuen Untersuchungen krampfhaft nach einer Lösung. Am neunten Tag verstarb mein Vater.

Neun Tage hatte ich ihm jeden Tag beigestanden und wir sind uns dabei so nah gekommen, wie in den ganzen 60 Jahren zuvor nicht. Seine Kräfte schienen am Ende und ich konnte ihn nur schwer dazu ermuntern, durchzuhalten. Seine Gedanken drehten sich immer nur um das, was eintreten würde, wenn er sterben müsse. Dabei warnte er mich vor meiner Mutter, indem er sagte: "Was du einmal machst, musst du immer machen - überlege dir gut, was du machst!" Eine weitere Sorge galt dem Zustand seiner schriftlichen Unterlagen, weil er in den letzten Jahren nie dazu gekommen war, diese zu ordnen. Das war nun wirklich die geringste Sorge. Als ich zum ersten Mal meine Mutter mit ins Krankenhaus nahm, glaubte ich zu erkennen, dass ihn das störte. Es war, als hätte man Maus und Schlange zusammen-gebracht. Ihr spezielles Leid über seine Erkrankung stand in ihrem persönlichen Mittelpunkt - ihr Haussklave streikte. Was würde aus ihr werden, wenn er sie verließ? Heute bin ich der festen Überzeugung, dass mein Vater nicht mehr weiterleben wollte, denn seine Rückkehr und sein Schicksal als Pflegefall wäre für ihn die Hölle gewesen. Seine Kräfte waren restlos aufgezehrt und auch die Hoffnung auf eine mögliche Zeit als Witwer war für ihn nicht mehr erstrebenswert. Ich weiß nicht, was seine letzten Gedanken waren, könnte mir aber denken, dass ihn eine tiefe Traurigkeit erfasst hatte, der er nicht mehr entrinnen konnte. Mit seinem Tod fing alles an, was den Titel und den Inhalt dieses Buches ausmacht.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Jahrswechsel für Gepeinigte

 

Der helle Tag ist kurz geworden,

die Nächte dafür umso länger.

Im Gänsestall beginnt das Morden,

auch Puten wird es bang und bänger. 

Draußen vom Walde, da kommt er her, 

der Nikolaus mit weißem Bart,

er meint sogar, es weihnachte sehr,

dabei sind die Zeiten ziemlich hart.

 

Lichterschmuck in jedem Fenster,

die Häuser erstrahlen in hellem Licht.

Nur einer, der wird immer ernster, 

weihnachtliche Freude, sie erreicht ihn nicht.

Sein Leben ist stark reduziert,

Druck auf Körper und auf Seel´.

Das Leben hat ihn angeschmiert,

doch sein Handicap ist mopsfidel.

 

Bald werden die Tage wieder länger,

das Dunkle weicht sodann dem Licht,

den Frühling preisen viele Sänger,

nur der Stumme preist ihn nicht.

Vielleicht in ihm der Mut erwacht,

die Zeit ist reif - ganz ohne Frag´,

denn in der Mitte jeder Nacht,

beginnt der neue helle Tag.

 

 

Witwenrituale und Legendenbildung

 

Die Nacht, in der mein Vater starb, war natürlich ein gravierendes Ereignis. Kurz nachdem wir die Nachricht des Krankenhauses erhielten, weckte ich meine Mutter, um ihr die schlimme Nachricht zu überbringen. Es gab einen Moment tiefer Trauer, der uns beide erfasste und ich tat alles, um ihren Schmerz zu lindern. Die erste Frage, die zu klären war, war die Frage, ob mein Vater obduziert werden soll oder nicht. Die Ärzte der Uniklinik wollten unbedingt herausfinden, an was mein Vater tatsächlich gestorben sei, weil man alles im Griff zu haben glaubte. Wir waren uns schnell einig, dass mein Vater ohne Obduktion beerdigt werden soll. Das hätte die Staatsanwaltschaft verhindern können, die normalerweise bei der Todesursache "unbekannt" tätig wird. Offensichtlich sah man im Alter von 87 Jahren und dieser Verletzung keinen ausreichenden Grund. Die Nacht verbrachte ich bei meiner Mutter.

 

Am nächsten Tag holte ich seine persönlichen Sachen in der Uniklinik ab und ließ mir in der Pathologie den Ehering aushändigen. Zu diesem Zeitpunkt war ich selbst noch sehr mit meinem Schmerz befasst und ich mutmaßte, was nun auf mich zukommen würde. Als ersten Schritt musste ich die Pietät festlegen, die meinen Vater überführen sollte. Das entschied meine Mutter nach Gesichtspunkten, die nur bedingt rational waren. Am darauffolgenden Tag suchte uns der Herr in berufsgemäßem Schwarz auf, um mit uns Geschäfte zu machen. Ein Jahr vorher hatten wir innerhalb unseres vereinseigenen Kabarettprogramms einen Sketch zwischen der Verkäuferin einer Pietät und einer eher nicht trauernden Witwe aufgeführt. Das, was ich damals skizzierte, erlebte ich nun fast haarklein live, nur, dass die Witwe wirklich trauerte. In dieser Phase haben Geschäftemacher eine gute Chance, ihr umfangreiches Angebot unter zu bringen. Wir wussten genau, was wir wollten und konnten deshalb den Rahmen gut abstecken.

 

Etwas schwieriger war es, den Pfarrer mit Informationen für die Predigt der Trauerfeier zu versorgen. Hierzu stellte ich die Stationen des Lebens meines Vaters chronologisch zusammen und stimmte sie mit meiner Mutter ab. Große Debatten gab es um den Satz: "Der Verstorbene pflegte seine Gattin in selbstaufopfernder Weise." Das musste gestrichen werden, damit es nicht so aussah, als hätte er sich bis zum Umfallen für sie verzehrt. Alles, was er tat, habe er aus eigenem Antrieb und Überzeugung gemacht. Am Grab muss man die Wahrheit eigentlich nicht so verbiegen. Im Gespräch mit dem Pfarrer schuf sie eine eigene Sicht der Dinge, die von der Realität gewaltig abwich. Hier merkte ich, dass sie an einer Legende strickte, bei der sie persönlich besonders gut wegkommen soll. Alles sollte so sein, wie es in einer harmonischen Familie zu sein hat. Mir ging das gewaltig gegen den Strich, aber ich machte es mit. Trauer scheint eigenen Gesetzen zu folgen.

Das Begräbnis war ein weiteres Schlüsselerlebnis, das einer Inszenierung glich. Nicht der Verstorbene spielte die Hauptrolle, sondern die Witwe, die ihr Mann verlassen hatte. Ungewöhnlich viel Menschen nahmen an der Trauerfeier teil und folgten auch zum Beisammensein bei Kaffe und Kuchen. Als wir wieder zuhause waren und so langsam den Verlust verdauten, begannen einige Rituale, die mich gewaltig störten. Meine Mutter beklagte, dass mein Vater sie verlassen habe, obwohl sie immer geplant hätten, dass sie zuerst sterben würde. Wegen ihrer Krankheiten waren sie scheinbar immer davon ausgegangen, dass das die zwangsläufige Reihenfolge sei. Nun waren seine Schränke voll mit geeigneter Kleidung und sie hatte keine schwarzen Kleidungsstücke. Man hörte die Verärgerung darüber deutlich heraus, als ob man selbst das Ende bestimmen könnte. Nun mussten flugs schwarze Kleidungsstücke angeschafft werden. Wochenlang wurden Kataloge auf Schwarz durchgeforstet und alles bestellt, was in ihrer Kleidungsgröße erhältlich war. Dafür benötigte sie aber Platz in den Schränken, die angefüllt waren mit der nun nicht mehr benötigten Kleidung meines Vaters. Wegen ihrer strengen Sonntag-/Werktagregelung war der größte Teil der Anzüge, Jacken und Mäntel überhaupt noch nicht getragen. Also solle ich sie so schnell wie möglich übernehmen. Das lehnte ich jedoch ab, weil sich zu diesem Zeitpunkt alles in mir dagegen sträubte. Damit war der Ärger vorprogrammiert. Das ganze Theater galt nur den Leuten und ihrer persönlichen Vorstellung, wie eine Witwe nach außen hin zu trauern habe.

 

Am meisten vermisste sie ihren Haussklaven, zu dem sie mich jetzt machen wollte. Alles sollte für sie so weiterlaufen, wie vor dem Sturz meines Vaters. Hier erinnerte ich mich aber an die bewussten Worte meines Vaters und zog sofort klare Grenzen. Es bedurfte schon einiger Debatten und Nerven, um alles in erträgliche Bahnen zu lenken. Wir ließen sie morgens, mittags und abends an unserem Tisch essen, damit sie nicht so allein war. Leider waren wir uns nicht darüber im klaren, dass dadurch ein Anspruch entstand, der nicht so leicht aus der Welt zu schaffen war. Daran dachten wir aber gar nicht, sondern wir hatten die feste Absicht, meine Mutter liebevoll zu umsorgen und in unsere Abläufe einzubeziehen. Das war ein großer Fehler, denn sie wollte von nun an bestimmen, was zu tun und was zu lassen sei. Das Mittagessen schmeckte ihr angeblich nicht, weshalb sie auch kleinste Mengen einfach stehen ließ. Wenn sie gegessen hatte, stand sie auf und ging, auch wenn wir noch aßen. Nebenbei ließ sie uns wissen, wie dies und jenes zu kochen und zu würzen sei. Sie verstieg sich einmal sogar in die Bemerkung "das Essen hättest du dem Vater nie hinstellen dürfen". Ich hätte noch dafür Verständnis gehabt, wenn das Essen wirklich nicht gut geraten gewesen wäre. Es schmeckte aber ausgesprochen gut - nur ihr angeblich nicht!

 

Während der Mahlzeiten kam es auch immer zu Streitigkeiten, die sie grundlos vom Zaum brechen konnte. Dabei ging es meistens ums Geld und ums Erben. Sie ging davon aus, dass das zu erwartende Erbe nach ihrem Tod so interessant sei, dass wir dafür heute schon alles tun müssten, um es uns zu verdienen. Geld betrachte sie als Mittel zum Zweck. Sie konnte aber nicht wissen, dass uns das gar nicht beeindruckte. Ihre Mittel war diesbezüglich also wertlos. Das Thema "Erben" kam auf den Tisch, weil ein Testament existierte, das im Banksafe lag. Ich holte es ab und brachte es zum Nachlassgericht, damit die Testamentseröffnung eingeleitet werden konnte. Es war mir bekannt, dass sie ein Berliner Testament abgefasst hatten, das auf Gegenseitigkeit beruhte. Aus Gründen der Sparsamkeit hatte mein Vater allerdings keinen Notar bemüht, weshalb nun ein Erbschein für das Umschreiben der Immobilien benötigt wurde. Ehe ich den genauen Wortlaut kannte, informierte ich mich im Internet über diese Art des Testaments und fand schnell heraus, dass der verbleibende Partner bis zu seinem Tod an das Testament gebunden ist, also niemals mehr seinen letzten Willen neu formulieren kann. Damit war klar, dass ich im Erlebensfall Alleinerbe sein werde. Es fiel mir also alles automatisch zu, wenn ich nicht vorher sterbe. Aus der Sicht meines Vaters war ich allerdings zugunsten meiner Mutter enterbt, weil er zuerst starb. Wäre meine Mutter zuerst gestorben, so hätte sie mich mit diesem Testament genau so enterbt. Als ich ihr das so sagte, war der Teufel los, denn sie wollte das nicht glauben. Im nächsten Schritt verstieg sie sich zu der Äußerung, dass ich nur nicht die Rolle meines Vaters übernehme, weil ich enterbt worden sei. Die dumme Diskussion füllte Abende und fast alle Mahlzeiten waren deswegen ein Horror.

 

Zu diesem Zeitpunkt spielte bei ihr noch eine Vertrauensperson eine Rolle, die auch mein Vater gern zu Rate zog. Diese Person sollte nun unbedingt aufklären, wie das mit dem Testament gelaufen sei. Inzwischen lag auch das vom Gericht eröffnete handschriftliche Testament vor, das auf 1987 datiert war. Es war so abgefasst, wie ich es vermutete, es fehlte nur der Passus, wer das Erbe nach ihrer beider Tod antreten soll. Wie es dazu kam, erklärte mir die bewusste Vertrauensperson. Mein Vater wollte das Testament so abfassen, dass ich zu Lebzeiten leer ausgehe, weil man sich damals mit mir zerstritten hatte. Auch meine Frau sollte leer ausgehen. Dieser Streit fiel zwar nicht in den Zeitraum des Testaments, etwas passte meinen Eltern aber immer nicht. Möglicherweise war mein Vater davon ausgegangen, dass man das Testament nach dem Tod des Partners wieder ändern kann. Im Gespräch wurde schnell klar, wie bewusst mich mein Vater benachteiligen wollte. Das hinterließ bei mir tiefe Spuren, was mein Verhältnis zu ihm im Nachhinein relativierte. Ich kann mir sein Verhalten nur so erklären, dass er selbst an die Reihenfolge des Ablebens dachte, von der meine Mutter ausging und dass er noch möglichst viel selbst verleben wollte - womöglich als Ersatz für die entgangene Lebensfreude. Dazu passte auch, dass er an mehreren Stellen der Wohnung Geld versteckt hatte, von dem meine Mutter nichts wusste. Das alles konnte und wollte sie nicht glauben, weil es so gar nicht ins bisherige Bild passte, das beide nach außen verkörperten. Die Legende vom liebenden Ehemann, der alles, was er machte, freiwillig und hilfsbereit umsetzte, stand im krassen Widerspruch zu dem, was mein Vater immer wieder beklagte. Es gab keinen Zweifel, er war ihr Haussklave. Ließen seine Kräfte nach und er setzte sich hin, war er ein "Faulenzer" und "Lahmarsch". Gab er Widerworte, war er ein "Drecksack" oder ein "Rindvieh". Stets waren die Anweisungen von bösen Schimpfworten oder Äußerungen begleitet, die ihn ins Unrecht setzten. Jetzt das Gegenteil zu behaupten oder von allem nichts mehr wissen zu wollen, fand ich empörend und ich sagte es ihr auch.

 

Ein ganz wesentlicher Punkt war die latente Streitlust, die sie tagtäglich verspürt. Dabei wurden alltägliche Dinge zu Problemen hochstilisiert und zu Grundsatzfragen erhoben, die nur eine Lösung kannten: Ihre Lösung! Ich weiß nicht, wie lange mein Vater dagegen angekämpft hat, ich weiß nur, dass er vor etlichen Jahren dazu überging, ihr grundsätzlich Recht zu geben, damit er wieder seine Ruhe hatte. So gewann sie nicht nur jede Diskussion, sondern sie glaubte auch immer stärker, dass sie immer und überall im Recht sei. Nun verschmolz diese Erfahrung mit der Legende von der harmo-nischen Ehe, die nur deshalb harmonisch war, weil der Partner zu keinem Misston mehr fähig war. Er plante lieber an ihr vorbei, schuf sich kleine Geldreserven und machte einiges, bei dem sie nicht durchblickte. 

 

Alle Geldangelegenheiten lagen inzwischen in seiner Hand und sie war in diesem Punkt von ihm abhängig. Dabei präsentierte er ihr auf Zetteln eine Scheintransparenz, die der wirklichen Entwicklung hinterher lief. Doch davon hatte sie keine Ahnung, bis ich nach seinem Tod die Geldangelegenheiten für sie abwickelte. Nachdem sie auch hier die ganze Wahrheit kannte, wurde ihre eigenen Legende von der harmonischen Ehe immer noch nicht korrigiert.

 


 

Ein ganz normaler Tag

 

 

 

 

Einstimmung

 

Wenn Sie einen "ganz normalen Tag" im Leben meiner Mutter, meiner Frau und mir erleben wollen, dann sollten Sie zunächst wissen, mit wem Sie es überhaupt zu tun haben. Zur Abrundung erwähne ich dabei noch einmal in Kurzform, was zuvor bereits Gegenstand meiner Betrachtungen war, denn manche Leser springen gleich zu den Themen, die sie besonders interessieren. Fangen wir mal bei der ältesten Person an.

 

Meine Mutter war damals 86 Jahre alt und seit drei Monaten Witwe. Da ich meine alten Herrschaften unbedingt im Alter betreuen wollte, sorgte ich drei Jahren vorher dafür, dass wir in einer Eigentumswohnanlage im ersten Stockwerk direkt nebeneinander wohnen. In dieser Zeit lernte ich meine hochbetagten Eltern sehr intensiv kennen und hatte hautnahen Einblick in ihre Tagesabläufe und ihr gegenseitiges soziales Verhalten. Dabei fiel mir auf, dass sich mein Vater total untergeordnet hatte und jeder Konfrontation aus dem Weg ging. So war er praktisch ihr Haussklave, der alle Dinge sofort verrichtete, die man ihm auftrug. Das führte allmählich zur Selbstaufgabe und nach einem tragischen Sturz infolge eines Schwächeanfalls zu einer Verletzung, die ihn 9 Tage später das Leben kostete. Seit dem war nichts mehr so wie es war. Meine Mutter zeigte seit Jahren ein engstirniges Verhalten. Ihr Leben musste tagtäglich nach einem exakt gleichen Schema verlaufen, das derart feingliedrig strukturiert war, dass für Spontaneität und Kreativität kein Platz war. Wegen der schwindenden Kraft mussten viele der schematischen Abläufe von anderen Personen übernommen werden. Die Unzufriedenheit darüber trieb gewaltige Stilblüten. Vom Wuchs her war meine Mutter klein und zierlich, ihre Haltung nach rechts und nach vorn geneigt, da sie seit Jahren einem Schmerz nachgab, der infolge der Körperhaltung täglich schlimmer wurde. Den Zusammenhang zwischen Schonhaltung, dauerhaftem Haltungsschaden und Schmerzen wollte sie einfach nicht verstehen. In weiten Bereichen ihres Lebens war sie betont sparsam. Ging es aber um Reinigungsmittel, um Blumen und um Salben sowie eine ihrer Selbsttherapien, dann eher nicht. Ihre Reinlichkeit war extrem, der Ordnungssinn manisch. Vertrauen war für Sie ein Fremdwort, "Danke" und "Bitte" waren es ebenfalls. Ihr Sozialverhalten trug deutliche egoistische Züge. Sie fand es zudem absolut unangemessen, wenn man in ihrer Nähe freudig und gut gelaunt war, wo es ihr doch so schlecht ging und sie keinen Grund zur Zufriedenheit verspürte. Ihr Befinden besserte sich schlagartig, wenn andere Menschen litten oder mitlitten. Soweit zur Person meiner Mutter. Alles weitere ergibt sich aus der Schilderung des "ganz normalen Tages".

 

Nun zu meiner Frau. Meine Frau ist ein sehr gutmütiger Mensch, der sich schon sehr früh im Leben durchbeißen musste und lernte, sich anzupassen. Wir sind inzwischen über vierzig Jahre verheiratet und haben zusammen schon allerhand Höhen und Tiefen erlebt. Sie schmeißt den Haushalt und ich bin für die Sonderaufgaben zuständig. Wenn Stress entsteht - besonders psychischer Stress, dann bekommt sie sofort gewaltige gesundheitliche Probleme und ihre Stimmung sinkt auf den absoluten Nullpunkt. Jede Handlung ist ihr dann zuwider und die Stimmung, die sie verbreitet, wird immer mieser. Die Qualität ihrer Arbeit - besonders das Kochen - hängt sehr von ihrer Stimmung ab. Es gibt auf der anderen Seite kaum eine Situation, von der sich von ihr nicht eine tiefe Unzufriedenheit ableiten ließe. Ihre Momente der Freude sind nur sehr kurz. Vom Sternzeichen her ist sie ein Fisch, wie meine Mutter. Von beiden werden wechselnde Gemütslagen mit verschiedensten Ersatzhandlungen ausgeglichen, die nur für kurze Zeit einen Ausgleich schaffen. Ihr grundsätzlicher Umgang mit Problemen und mit sich selbst ist ein Teil des Gesamtproblems, dem ich ständig ausgesetzt bin. Am meisten fehlen ihr Urlaube und gemeinsame Unternehmungen. Unsere Gemeinsamkeiten reduzieren sich auf den Garten und den immer wiederkehrenden Tagesablauf. Wenn es darauf ankommt, dann halten wir zusammen und meistern, was zu meistern ist.

 

Ich selbst bin seit dem Jahr 2002 im Unruhestand, recht vielseitig und aktiv. Seit dem Tod meines Vaters kümmerte ich mich um meine Mutter, damit meine Frau aus der Schusslinie ihrer Schwiegermutter gehalten wurde. Was ich mache, mache ich pflichtbewusst und zuverlässig, auch wenn es gewaltig stresst. Allerdings poltere ich gleich los, wenn mir etwas nicht passt. Was raus muss, muss raus, ehe ich daran ersticke! Launen kann ich bei anderen Menschen nicht ausstehen und Ungerechtigkeiten schon mal gar nicht.

 

Überhaupt - mich treibt mein Gerechtigkeitssinn viel zu stark! Ich gehe dabei oft sogar soweit, dass ich mir selbst damit schade. Meine Hilfsbereitschaft - eine weitere nicht ganz einfache Eigenschaft - bringt mich immer wieder in Zeitnot, weil für mich selbst viel zu wenig Zeit übrig bleibt. Leicht übergewichtig quäle ich mich bei körperlich anstrengenden Arbeiten, versuche deshalb, mich vornehmlich mit eher geistiger Arbeit fit zu halten. So bin ich in einem Verein engagiert, übernahm einige Verwaltungstätigkeiten, bin kreativer Faktor einer Kabarettgruppe, engagiere mich bei einer Seniorenzeitung und vielem mehr. Mein großes Hobby ist das Schreiben von Satiren und meine Internet-Zeitung. Die größte tägliche Herausforderung war allerdings die häusliche Betreuung meiner Mutter über 3 Jahre hinweg. Das forderte mir den letzten Rest an Beherrschung ab, weil die psychische Belastung enorm war. 

 

Permanent wurden abnormalste soziale Verhaltensweisen mit einem Grad von Unverschämtheit kombiniert, dass die daraus entstehenden Situationen nur sehr schwer zu verkraften waren. Nun bliebe noch die Frage, warum ich mit den folgenden Zeilen überhaupt diesen "ganz normalen Tag" festhalten will. Nun - weil sich 3 Jahre lang alles, was ich schildern werde, tagtäglich exakt wiederholte. Es sind tatsächlich nur die kleinen "Events", wie Friseur, Fußpflege, Krankengymnastik und der Gang zum Friedhof, die sich auf mehrere Tage verteilten. Ansonsten waren alle Abläufe, Aktionen und Reaktionen exakt gleich und werden auch immer wieder von den gleichen Sprüchen, Äußerungen und Debatten begleitet. Lediglich die besonderen Streitthemen wechselten nach Lust und Laune.

"Genießen" Sie mit mir den täglichen Dauerschmerz, durchlaufen Sie nur ein einziges Mal mit mir die Tretmühle stereotyper Abläufe und wägen Sie dabei ab, welche Verhaltensweisen den geringsten Ärger nach sich ziehen würden - wohl wissend, dabei womöglich gleichzeitig in die eigene Zukunft zu schauen.

 

 

 

 

 

 

 

 

Frei wie ein Vogel

 

Des neuen Tages erste Sekunde

bricht voll der Unschuld an fürwahr,

der Zeiger dreht fortan die Runde.

Die Stunden schlagen hell und klar.

 

Manchem heut´ die Stunde schlägt

und die Zeiger werden stocken.

Glück, wer die Sekunde überlebt,

wem nicht, dem läuten Glocken.

 

Glück und Pech, des Lebens Lauf

lässt sich wahrlich nicht bestimmen.

Wohl dem, der stets wacht auf

und weiß, heut´ wird´s gelingen!

 

Wer zweifelt - schon in tiefer Nacht,

denkt an den Tag mit Schrecken,

ist morgens womöglich aufgewacht,

um real die Sorgen zu entdecken.

 

Entscheidend ist die Lebensangst,

so, wie sie in uns wächst und reift,

wie Du stets um Dein Schicksal bangst

und Deine Situation begreifst.

 

Verliert die erst´ Sekund´ des Tages

ihre Unschuld tief in der Nacht,

so ist des Lebens Werk - ich sag´ es -

kurz darauf final vollbracht.

 

Drum Schande dem, der Dich bedrückt,

ihn soll der Teufel holen!

Und hast Du Glück, wirst nur verrückt,

wird Dir das Leben doch gestohlen.

 

Schau in den Himmel über Dir,

dort drehen Vögel ihre Runden.

Sie singen und sie zeigen Dir,

sie haben die Freiheit  dort gefunden.

 

Morgenstund´ hat Gold im Mund

 

Augen aufmachen und auf die Uhr schauen - der neue Tag beginnt! Es ist 6 Uhr 30 und die Vögel zwitschern schon. Erste Sonnenstrahlen quälen sich durch die Schlitze des Rollladens und ich mich aus dem Bett. Neben mir höre ich ruhiges Atmen, denn meine Angebetete schläft noch. Der Griff zur frischen Unterwäsche ist obligatorisch, dann wanke ich langsam in Richtung Bad. Unterwegs sorge ich für aus-reichend viel Licht und ein erster Blick durchs Wohnzimmerfenster verrät, dass das Wetter gemischt ist. Im Bad angekommen denke ich zunächst - für einen kurzen Moment sitzend - darüber nach, was heute so anliegt, während dem sich mein Körper von der Nacht erleichtert. Die Kacheln auf der gegenüberliegenden Wandseite helfen mir, den Tag zu strukturieren, denn sie sagen mir, dass jetzt alles wieder genauso schematisch abläuft, wie ich es inzwischen schon gewohnt bin. Da wäre zunächst der Blick in den Spiegel, der das gleiche trostlose Bild wie an jedem Morgen zeigt. Die Frisur ein wüstes Durcheinander, der Abdruck einer kleinen Falte des Kopfkissens läuft quer über die Wange, dann kommt das allmorgendliche Zähne fletschen, als ob man kontrollieren wolle, ob noch alle Zähne da sind. Guten Morgen liebe Zahnlücke! Schon ist der Mund wieder zu, der Geschmack noch nicht besser. Das Zähneputzen mit all seinen kleinen Besonderheiten zaubert erste Frische in Mund und Gesicht und die Zahnreihen sind jetzt auch wieder komplett. Das ist doch mal ein nettes Lachen wert!

 

Nachdem alle Utensilien für die Rasur bereitgestellt sind, verschwindet das Gesicht schnell hinter einem Schaumteppich, der auch die Falten auf der Wange vertreibt. Die Fünffach-Klinge bahnt sich wie im Werbefilm ihren Weg durch den Schaumteppich und hinterlässt eine Spur, die Flächen zeigt, die an einen Kinderpopo erinnert. Ein total glattes Männergesicht und ein optimistisches Lachen sind der Lohn für die Mühe, ehe ich unter die Dusche gehe. Vorher lege ich noch das Mikrofasertuch und den Fensterwischer für die anschließende Reinigung der Dusche bereit. So kann man von Innen alles greifen, sobald es gebraucht wird. Wohliges Erschauern nach wenigen Sekunden - jetzt weicht endgültig die Nacht aus dem Körper. Wasser stopp und kräftig eingeseift! Gute Gerüche, samtweicher Schaum, das wahre Vergnügen! Wieder und wieder erschauere ich unter dem Wasservorhang, während der Schaum langsam im Abfluss verschwindet. Ein letztes kaltes Kontrastprogramm und ich bin fertig. Tür auf, eine kühle Brise strömt in die Duschkabine und der Dunst entweicht. Schon bin ich dabei, die Dusche zu reinigen und zu trocknen, denn Ordnung muss sein. Die Nachbehandlung meiner Haut ist schnell erledigt, ehe mein Körper unter lockerer Kleidung verschwindet. Immer noch stark erhitzt verlasse ich das Bad und bemerke, dass meine Frau auch schon herum wuselt. Es riecht bereits nach frisch aufgebackenen Brötchen.

 

Zunächst betrete ich mein Arbeitszimmer, um die Jalousie zu öffnen, die bisher das Sonnenlicht abhielt. Dann werden Receiver, Fernseher und der PC eingeschaltet, die auch langsam hochfahren und sich mit allen möglichen Piepstönen zu Wort melden. Im TV läuft das Morgenmagazin. "Sie haben E-Mail erhalten", tönt es aus den Lautsprechern des PC´s, was sofort meine Aufmerksam weckt. Es sind mal wieder zweiunddreißig SPAMs, dazwischen zwei echte E-Mails. Ich drücke die passenden Knöpfe und Tasten und schon weiß ich, dass ich einen neuen Eintrag im Gästebuch habe - den Eintrag eines Rechtsradikalen aus Dänemark, den ich sofort lösche. Ein Blick in die Zugriffsstatistik meiner Homepage zeigt mir, dass der gestrige Tag wieder hohe Zugriffszahlen aus aller Welt brachte und die Dokumentation der letzten drei Jahre eines jungen Soldaten im Russland-Feldzug immer noch der große Renner ist. Ein Schwenk auf die Homepage der Frankfurter Rundschau macht mich mit den neuesten Nachrichten der Region vertraut, ehe ich auf die anderen bevorzugten Seiten weiterer Nachrichtenorgane wechsele. Jetzt fehlt eigentlich nur noch der TAGESANZEIGER, der schon im Briefkasten stecken müsste. Ein kurzer Gang dorthin zeigt mir, dass die Austrägerin wohl gestern Abend wieder ihren Kegelabend hatte. Was wollen auch Berufstätige vor 8 Uhr mit einer Zeitung, wenn sie bereits um 7 Uhr auf die Arbeit gehen!?

 

Nun naht das morgendliche Programm mit meiner Mutter. Ich öffne ihre mehrfach verschlossene Wohnungstür und lasse mein fröhliches "Guten Morgen - gut geschlafen?" erschallen, was mit einem "Oahhhhhh, ich hab´ schon wieder so starke Schmerzen... Ferdi..." erwidert wird. Wohl gemerkt: Ferdi hieß mein Vater! Ich heiße Klaus! Natürlich ist wieder die Tür zum Bad verschlossen, obwohl Madam ganz allein in ihrer Wohnung ist. Man weiß ja nie...!? Am fröhlichen Plantschen höre ich, dass sie noch mit der morgendlichen Toilette befasst ist. "Ich bin bald soweit...", lautet ihre Botschaft und ich wende mich der Wohnung zu. Zunächst werden alle Rollläden hoch gezogen und es wird gelüftet. Im Wohnzimmer darf es nur ein Spalt der Balkontür sein, damit die Orchideen nicht unter dem Luftzug leiden. Die Heizung war natürlich über Nacht völlig abgedreht, obwohl wir Thermostate und Nachtabsenkung haben. Aber - erklären Sie das mal egal welcher Frau! Im Schlafzimmer wartet die tägliche Grundordnung auf mich. Das Ehebett ist zur Hälfte aufgedeckt, die Tagesdecke halb zurück geschlagen. Das benutzte Bett zeigt keinerlei Spuren des Schlafes, denn meine Mutter bahrt sich jede Nacht regelrecht auf und wacht morgens in der gleichen Lage wieder auf, in der sie sich hinlegte. So ist das Bett schnell wieder hergerichtet, die Tagesdecke glatt gestrichen und alle Dekorationen, wie Väschen, Platzdeckchen, Kunstblümchen etc. wieder an ihrem Platz. Dabei ist darauf zu achten, dass jedes Utensil seinen exakten Platz hat. Der Wecker, das Bild von Ferdinand, die Tablettenschachtel, das künstliche Blumensträußchen, der Hocker vor dem Bett und die Bodenvase mit den Kunstblumen. Nach Ende der Lüftungsaktion muss die Heizung wieder exakt auf "2" gestellt werden - wegen der Alpenveilchen auf dem Fensterbrett.

Mutter ist endlich soweit, dass man sie anziehen kann. Die Tür des Bades wird feierlich aufgeschlossen und man ist an Weihnachten und die Bescherung erinnert. Sie sitzt auf einem Hocker neben dem Heizkörper, an dem an jeder Querrippe ein Kleidungsstück hängt, das vorgewärmt auf seinen Einsatz wartet. Ganz unten am Heizkörper hängt ein kleines grünes Gästetuch - das Dienstbotenhandtuch. "Schmier´ mich mal ein!" lautet die erste barsche Aufforderung des Tages und ich greife zur VOLTAREN-Salbe. Sie ist zur Schmerzlinderung geeignet und sollte eigentlich in Maßen Anwendung finden. Bei meiner Mutter erfüllt sie aber fast jeden Zweck und wir verarbeiten pro Woche mehr als eine große Tube. Nahezu alle Körperteile mit Ausnahme des Mundraumes werden damit versorgt, weil sie nun mal so schmerzempfindlich ist. So beginne ich auch jetzt wieder mit der Placebo-Behandlung, denn die Wirkstoffe dürften schon lange nicht mehr wirken. Was bleibt, ist die Einbildung, es würde helfen. Nachdem die Aktion beendet ist, wasche ich mir erst einmal das Fett von den Fingern und darf anschließend das kleine grüne Dienstbotenhandtuch benutzen. Matt schimmern die Füße meiner Mutter, die sie vorher mit Schrundensalbe, einem zusätzlichen fetten Pferdebalsam und VOLTAREN behandelt hatte, damit die Nylon-Strümpfe von der trockenen Hornhaut nicht beschädigt werden, die alle vier Wochen entfernt wird. Die Füße stecken zwischendurch immer wieder in Hausschuhen, weil sie wegen ihrer Beschwerden am rechten Fuß (infolge ihrer schiefen Haltung) nicht barfüßig stehen kann. Langsam trennt sie sich von den Schuhen und ich ziehe ihr die Nylon-Strümpfe an, was immer vom gleichen "Pass´ auf, dass du keine Laufmasche ziehst!" begleitet wird. Und wieder hinein in die Hausschuhe! Mühsam erhob sie sich von ihrem Hocker, den ich sogleich zusammenklappte und wegstellte. Nun war der Hüfthalter dran - ein braunes Etwas, das oben nichts mehr zu halten und unten keinen Sitz mehr hat - nur wegen der Funktion "Strumpfhalter". Das Befestigen der Strümpfe teilten wir uns, sie vorne ich hinten. Dann der vorher zusätzlich für alle Fälle präparierte Schlüpfer, der noch eine weitere zusätzliche Papiereinlage erhielt - man weiß ja nie!

 

Weil es heute auf den Friedhof geht, folgt noch eine fleischfarbene Hose aus Merinowolle, die bis unter den Busen reicht. Nachdem feststeht, welche lange Hose heute getragen werden soll, wird auch die angezogen. Bei all diesen Vorgängen werden immer wieder die Hausschuhe aus- und angezogen, ehe zu den richtigen Schuhen gewechselt wird. Diese haben Klettbänder. Nachdem die Hausschuhe aus-gezogen sind, kommt das Kommando: "Pass´ auf das Klettband auf!" und es wird von der barschen Aufforderung begleitet: "Rücke erst noch den Strumpf im Bereich der Zehen zurecht! - Du weißt doch, dass das mein schlimmer Fuß ist...". Gelegentlich murmele ich diese immer wieder-kehrenden Sätze vor mich hin, lange, bevor sie sie ausspricht. Darauf gibt es die ersten unwirschen Äußerungen, die bis hin zu "Drecksack...!" oder "Arschloch!" gehen. Der Hose folgt das Merino- Unterhemdchen und der Merino-Pullover , weil es auf dem Friedhof ja so kalt ist. Bei den Alpenveilchen und den Orchideen im Wohnzimmer sind es derweil aber auch nur maximal neunzehn Grad. Da muss man schon warm angezogen sein.

 

Ehe ich meine morgendlichen Pflichtdienste beende, ziehe ich natürlich die restlichen Rollläden hoch. Deren Gurte sind immer wieder halb versetzt von der Rolle, die in der Wand sitzt. Das strapaziert die Gurte enorm, ist aber wegen einer jahrelangen blöden Angewohnheit unvermeidlich, weil der Gurt eines Rollladen früher nicht hielt und stets nach unten rutschte. Heute sind alle Rollläden ok - die Angewohnheit aber blieb.

 

Gern würde ich sie jetzt bereits zum Frühstücken animieren, aber es sind noch Kleidungsstücke zu waschen, die sie am Vortag getragen hatte. Da in Waschmaschinen nur bestimmte Wäsche gewaschen wird, muss ein großer Teil von Hand gewaschen werden. Das macht sie grundsätzlich selbst! Dazu wird ein ganze Kappe voll Feinwaschmittel in flüssiger Form auf sechs bis sieben Liter Wasser dosiert. Dem Handwaschgang folgt ein komplizierter Schleudergang in der Waschmaschine in verschiedenen Stufen. In die Waschmaschine gehört nach ihren Angaben nur saubere Wäsche, wie wir bereits wissen. Erst wenn das Wäschestück friedlich zum Trocknen auf dem Bügel hängt und auch die Alpenveilchen und der Weihnachtsstern gegossen sind, ist vielleicht an Frühstück zu denken. Meistens verlasse ich bereits vorzeitig die Wohnung meiner Mutter, um Streit zu vermeiden.

 

Es hat überhaupt keinen Sinn, ihre Abläufe irgendwie zu beeinflussen, denn sie sind das Korsett, in dem sie schon seit vielen Jahren lebt. Ihre Gedanken erscheinen dabei völlig abgeschaltet und sie folgt nur noch einem inneren Trieb. Sage ich dennoch etwas, weil ich auch mal keinen guten Tag habe und mich der Ablauf nervt, dann eskalieren unsere Debatten recht schnell. Manchmal rege ich mich dabei so sehr auf, dass ich die Fassung verliere und ich breche die Diskussion ab. Beim Verlassen der Wohnung vernehme ich im Hintergrund noch ein "Das mache ich nicht länger mit! Ich gehe in ein Heim. Ich kann hier nicht bleiben. Wenn das der Ferdi wüsste, wie der mit mir umgeht...", etc. Gelegentlich folgt noch eine hysterische Heul-Arie. 

Dann wird es wieder ruhig - das Frühstück naht...!

 

 

 

 

 

 

 

Gebet für Sorglose

 

Ich bin reich und ich bin fruh,

dass ich keine Sorgen hu!

Gut, die Knochen sind recht müd´,

 meistens spür´ ich jedes Glied,

doch ich hab´ zu meiner Freude

für alles heute meine Leute.

Gott - sei Dank, bin noch net err!

Dafür dank ich Dir, oh Herr!

 

Mach, dass alles auch so bleibt,

das Leben keine Possen treibt,

mein Sklave sich nicht weiter echauffiert,

letzten Endes noch die Lust verliert. 

Mache bitte, dass er nicht versteht,

wer ihn tagtäglich hintergeht!

Lass ihn Gutes tun in seinem Glauben, 

sonst wirst Du mir den Sklaven rauben.

 

Oh Herr, ich lernt´ in meinem Leben, 

Nehmen ist praktischer als Geben.

Das hab ich immer so gemacht

ins Fäustchen mir dabei gelacht,

weil so etwas nur funktioniert,

wenn´s der Andre nicht kapiert.

Mach alle blind und treu in meinem Namen!

 

Amen!

 

 

Frühstück am Familientisch

 

Das Frühstück ist fertig. Wie immer ist der Frühstückstisch gedeckt und hübsch dekoriert. Im Kamin flackert das künstliche Feuer derart echt, dass man glaubt, Wärme zu spüren. Es riecht nach frisch gebackenen Brötchen und eine große Auswahl an Aufstrichen und Leckereien wartet auf ihre Verwendung - nur die gnädige Frau fehlt noch. Sie wird wohl noch mit ihren Blumen beschäftigt sein. Meine Frau beginnt bereits damit, meiner Mutter die Brötchen zu schmieren und in mundgerechte Stücke zu schneiden, damit sie nur noch zu essen braucht. 

 

Es schellt - Madam ist da! In der rechten Hand ihr kleines Etui mit den frischen Taschentüchern und in der linken Hand ein gebrauchtes Tempo- Taschentuch - so schiebt sie ihre halb aufgeklappte fahrbare Gehhilfe vor sich her. Vom Eingang bis auf den Sitzplatz am Kopfende des Tisches (wo auch sonst!?) erstreckt sich die Jammer-Arie über ihr Befinden, der ein eher zufälliges "Guten Morgen Edith!" folgt. Schon das Platznehmen mitsamt dem Umbinden der Stoffserviette ist ein Ritual für sich. Gierig greift sie nach dem Glas Orangensaft und trinkt es mit wenigen Zügen aus. Endlich beginnen auch meine Frau und ich mit dem Frühstücken. Bei jedem Häppchen werden wir damit konfrontiert, dass das Oberteil des Brötchens zu dick, die Marmelade ebenfalls zu dick oder irgendetwas anderes zu bemängeln ist. Mein Vater hat halt alles ganz anders gemacht. Begleitet wird das Frühstück von ersten Debatten über Fragen des aktuellen Tagesablaufs. Dieser kann durch einen Arztbesuch, den Gang zum Friseur, das Programm der einmal wöchentlich kommenden Putzhilfe, der Fußpflege oder der Krankengymnastik geprägt sein. Jedes Thema kennt spezielle Diskussionspunkte, die immer wiederkehren. Es ist, als würden im Kopf Stereotypen abgerufen werden um zu zeigen, dass man noch klar im Kopf ist.

Ist ein Friseurbesuch geplant, dann kommt von ihr generell die Frage, ob es bei ihr heute überhaupt gesundheitlich möglich sei. Regelmäßig siegt nach endlosen Debatten. jedoch die Eitelkeit. Beliebt sind die Arztthemen, wenn sie wieder mal nicht mit ihren bekannten Selbstdiagnosen korrespondieren. Geht es um die Putzhilfe, dann wird minutenlang darüber geredet, wie viele Putztücher heute anschließend wieder von Hand zu waschen sind und was nicht so geputzt wird, wie es eigentlich richtig sei. Sie sage da aber nichts, damit sie nicht eingeschnappt sei. Außenstehende genießen bei ihr immer Schonung, nur wir als Angehörige nicht!

 

Krass ist die immer wiederkehrende Diskussion um die Fußpflege. Hierfür opferte sich früher mein Vater, weil er ein arger Geizhals war. So kaufte er eine kleine Maschine, mit der man die Hornhaut von den Füßen entfernen konnte. Stundenlang ging diese Prozedur, bei der er nicht selten einschlief. Alle zwei Wochen musste er ran, damit die andauernde Nörgelei endlich aufhörte. Heute muss ich die pausen-losen Nörgeleien über mich ergehen lassen, weil ich mich beharrlich weigere, auch noch Fußpflege zu betreiben. Nun kommt eine gelernte Fußpflegerin, die auch den gesundheitlichen Aspekten Rechnung tragen kann. Nach wie vor sind meiner Mutter aber die Intervalle zu lang und die Kosten unnötig, weil ich das ja hätte machen können.

 

Kommt die Krankengymnastin, so wird der gesamte Tagesablauf darauf abgestimmt. Es ist leichte Kleidung zu tragen, was ihr sehr schwer fällt, weil sie ihren Panzer (Hüfthalter) und die Strapse gewohnt ist. Stunden vorher wird bereits gejammert, was die Krankengymnastin wohl heute wieder mit ihr anstelle. Eigenen Bewegungen geht sie dagegen aus dem Weg und in einer knappen Stunde sollen dann alle Defizite ausgeglichen werden. Das schafft keine Krankengymnastin ohne, dass anschließend ein leichter Muskelkater zu überwinden ist.

 

Kommt ihr ein Friedhofsbesuch in den Sinn, dann kann man davon ausgehen, dass das Wetter gerade besonders schlecht ist aber ihre Stimmung dazu passt. Rede ich ihr das an diesem Tag aus, weil sie im Rollstuhl unweigerlich nass wird, dann habe ich angeblich keine Lust und würde ihr den Friedhofsbesuch verweigern. Dafür hätte ich übrigens ja das Auto meines Vaters geschenkt bekommen. Wenn ich dann aber sage, dass wir dennoch fahren könnten, dann zieht sie auf einmal selbst wegen des Wetters zurück. Dazwischen liegen wieder einmal 10 Minuten ätzender Streitlust, wüster Angriffe und krasse Beschimpfungen - entbehrlich wie ein Kropf!

 

Das gemeinsame Frühstück ist eine ihrer Gelegenheiten, Themen ums liebe Geld, das Vermögen und das Erben anzuschneiden. Obwohl alle Zahlen auf dem Tisch liegen und alles absolut transparent ist, werden immer wieder Zweifel laut. Dabei kommen Euro und D-Mark gehörig durcheinander. Handelt es sich um Zuwendungen, kommen D-Mark ins Gespräch, geht es um Einnahmen, dann kann man sie in Euro besser benennen. Das Thema "Erben" ist ein Dauerbrenner, denn mit der Vorabinformation hinsichtlich ihres Erbes versucht meine Mutter ständig, eine Vorabdankbarkeit zu erzeugen, die alle Zumutungen rechtfertigen sollen. Kritisch wird die Diskussion, wenn meine Frau und ich kein Interesse am Erben zeigen und mit dem zufrieden sind, was wir haben. Das wirft ihre Lebensabendstrategie gänzlich über den Haufen. Sie setzt gern andere Menschen mit einer Zuwendung in eine vermeintliche Schuld, um Dankbarkeit einzufordern. Wird ihr diese nicht zuteil, dann kann sie furchtbar böse werden. Am besten, man nimmt erst gar nichts!

 

Ein ganz alter Zopf ist die Monatsplanung der Einnahmen und Ausgaben, damit man genau weiß, was am Monatsende übrig bleibt. So existiert ein genaues Raster, in welchem Monat welche Zahlungen oder Abbuchungen zu leisten sind, die den monatlichen Einnahmen gegenüber gestellt werden. Das mache ich dank des PCs heute auf den Cent genau. Sie kann es aber nicht lesen! Also muss ich ihr alle Zahlen immer wieder vorbeten, die sie dann mit schöner Regelmäßigkeit anzweifelt. Das bringt mich schier zum Wahnsinn. Sie aber scheint das vergnüglich zu finden.

 

Nach so einem Frühstück ist die Grundstimmung für den ganzen Tag hergestellt und wir harren der weiteren Dinge, die auf uns zu kommen. Sollte uns jemand beneiden, so würden wir gern tauschen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Anbiederung an den Teufel

 

Den Teufel hab ich nie gekannt,

auch fürchte ich ihn nicht,

bin dennoch auf ihn sehr gespannt,

aber Teufel, täusch´ dich nicht!

Vielleicht sind wir uns ziemlich ähnlich

und können uns auch messen,

wir sind im Wesen unversöhnlich

und haben das Gute längst vergessen.

 

Vielleicht sind wir ja ein gutes Paar, 

meine Mittel sind recht rigoros,

wir beide machen, das ist doch klar,

im wahrsten Sinne den Teufel los.

War immer für falsch Zeugnis gut

und kannte danach keine Reue.

Sei mein Freund und zeige Mut,

damit auch ich Dich bald erfreue!

 

(Armer Teufel!)

 

 

Häusliche Sonderaufgaben

 

Die einleitende Redewendung meiner Mutter für Sonderaufgaben ist immer "Komm´ mal schnell, du musst mir helfen!" Heute sind wieder die Orchideen dran. In zwei Zimmern stehen sie blühend am Fenster oder ohne Blüten in Warteposition, bis sie sich wieder ein Platz am Fenster verdient haben. Seit zwei Stunden ist der Rollladen schon wieder bis auf einen kleinen Spalt geschlossen, weil entweder die Sonne die Frechheit hatte, zu scheinen oder einige Regentropfen zu sehen waren. Orchideen werden einmal in der Woche gedüngt und gewässert. Mühsam zerbrösele ich den stein-harten Dünger, der - einmal falsch gelagert - zu einem Klumpen zusammengebacken ist. Gebraucht wird nur ein Teelöffel auf zwei Liter Wasser. Jeder Blumentopf erhält nun einen ordentlichen Schuss der Brühe, bis die Pflanze im Wasser schwimmt und sie sich voll saugen kann. Nun sind zwei Stunden Pause, ehe man die überschüssige Brühe abschütten kann.

 

Diese Zeit lässt sich sehr gut mit dem Wechseln der Tischdecke ihres puppenstubenähnlichen Wohnzimmers überbrücken. Eine frische Tischdecke heißt noch lange nicht, dass die bisherige Tischdecke schmutzig war. Nein - meine Mutter möchte nur diese gegen eine andere ihrer handgestickten Schmuckstücke austauschen. Die Auserwählte ist natürlich eine Decke, die schon sehr lange im Bruch liegt und gebügelt werden muss. Also müssen das Bügelbrett und der Dampfbügelautomat für eine einzige Tischdecke aufgebaut werden. Bei dieser Gelegenheit kann natürlich auch noch dieses oder jenes Kleidungsstück gebügelt werden. Schon ist mein Tagesablauf komplett über den Haufen geworfen, nur, weil eine Pause bei den Orchideen entstand. Bügeln ist wirklich eine meiner Stärken und so kann ich etwas dafür tun, dass ich nicht aus der Übung komme. Runde Decken lassen sich sehr gut bügeln, wenn man runde Decken bügeln kann. Damit die Mitte der Decke etwas geschont wird, ist auch gleich noch eine kleine Mitteldecke zu bügeln, die dazu passt.

 

Irgendwo im Hintergrund höre ich, dass etwas nicht stimmt. Aha - sie möchte genau jetzt aus einem unerfindlichen Grund Wäsche im Schrank umsetzen. Irgendwie von rechts nach links und ein Teil von oben nach unten - so genau steht das noch nicht fest, nur, dass es sofort sein muss. Mein Einwand, dass ich noch anderweitig beschäftigt sei, wird ignoriert. Es wird damit gedroht, dass sie selbst auf die Leiter steige oder - viel schlimmer - aufs Bett, "weil sie da oben nicht dran komme". Ade Bügelautomat, bis später! Die Räumaktion führt zu Tränen, weil sie nichts mehr sieht und nicht mehr weiß, wo was liegt aber wieder wissen will, wo etwas liegt, wenn sie es denn bräuchte. Aha!

 

Die Orchideen stehen derweil seit zweieinhalb Stunden in der Brühe - also: Wechsel der Priorität. Während ich sämtliche Übertöpfe in einen kleinen Eimer abschütte, wird die Frage an mich herangetragen, was denn die Tischdecken machen und was ich überhaupt die ganze Zeit gemacht habe. Ich reagiere recht unwirsch. Die anschließende Heularie mündet wieder in das Lamento: "Hier kann ich nicht bleiben! Wie kann man nur so undankbar sein! Ich verkaufe alles und gehe in ein Heim! Dann geht das ganze Erbe drauf und dann wirst du bereuen, nicht dankbar gewesen zu sein. Was dein Vater alles gemacht hat! Der hat auch keine Widerworte gegeben...! Ich kann hier nicht bleiben!" Inzwischen sind die Tischdecken fertig und liegen auf - schön sieht es aus. Kein Wort des Dankes, sondern der flotte Spruch: "Wenn du es nicht gemacht hättest, dann hätte ich mir jemand gesucht, der es macht!" Mit den Orchideen war sie allerdings nicht zufrieden, denn die sollen noch abgezupft werden, womit die Blüten gemeint sind, die ihre Qualitätskontrolle nicht unbeanstandet durchlaufen hatten. Dann müssten die Stücke auch so gedreht werden, dass die Blüten weder die Fensterscheibe, noch den Vorhang berühren. Alles Millimeterarbeit und der Vormittag ist fast um.

 

Unter einem Vorwand stehle ich mich davon, denn Sonderaufträge gäbe es jetzt noch genug. Zumindest muss ich noch das kleine halbvolle Mülltütchen mitnehmen und werde daran erinnert, dass heute noch Mineralwasser aus dem Keller geholt werden muss. Die Wohnungstür fällt ins Schloss, ich richte mich kerzengerade auf und schnaufe erst einmal durch. In der eigenen Wohnung angekommen, fragt meine Frau erwartungsvoll: "War irgendetwas? Wo bleibst du denn so lang?"

Ich glaube, ich blieb ihr die Antwort schuldig.

 

 

 

 

 

 

 

Im Spinnennetz

 

Mensch, was bin ich doch so edel,

so hilfreich und so gut!

Mit Kleingeld ich stets wedel,

das macht meinen Knechten Mut.

 

Auch schenk´ ich Süßes ab und an

und fange damit meine Leute, 

verlang´ von diesen Leuten dann

allerlei zu meiner Freude.

 

Dazu genieß´ ich diese Lust,

die einem überkommt mit Freude,

wenn sie erkennen: "Ach, du musst!"

Dann ist´s zu spät für diese Leute.

 

Mein Spiel ist ähnlich dem der Spinne,

wenn sie knüpft ihr Netz im Licht.

Wer alles macht in meinem Sinne,

hat Pech und er entkommt mir nicht.

 

 

Verwandtschaftliches Feedback

 

Ehe ich etwas anfangen kann, was ich eigentlich dringend machen müsste, schellt das Telefon - die Verwandtschaft ist dran. "Wie es mir gehe", hieß es und "ob ich wüsste, dass meine Mutter angerufen und sich bitter beschwert habe". Aha!

 

Wegen ihrer Augenbeschwerden hatte ich meiner Mutter sehr aufwändig und mit riesig großen Buchstaben und Zahlen eine Telefonliste nahezu aller Bekannten und Verwandten erstellt, damit sie wieder ohne fremde Hilfe telefonieren kann. So ist es natürlich logisch, dass sie das nutzen soll, allerdings nicht, um sich über mich zu beschweren, weil ihr mal wieder der Anpassungsprozess nicht schnell genug geht. Noch gebe ich Widerworte und sei sehr frech, ja gemein zu ihr, erzählt sie überall herum. Ihr verstorbener Ferdinand habe besser "gespurt". Kleine Dispute des Alltagsbereichs machen so teilweise völlig verdreht die Runde und man zeigt sich in der Verwandtschaft besorgt.

 

Gut eine halbe Stunde muss ich mir haarklein alle möglichen Unterstellungen und Hetztiraden anhören, die das Haus verlassen hatten und dazu Stellung nehmen. Irgendwie kam ich mir recht komisch vor, dass ich mich für diese Drangsal auch noch rechtfertigen muss. Eigentlich wäre jetzt eine Grundsatzdebatte fällig. Weil alles so schlimm sei, würde man mich gern einmal besuchen, damit man helfen könne. Darauf habe ich gerade gewartet! Wie so oft endete das Telefonat mit dem berühmten Satz: "Sage ihr aber nicht, dass ich dir das erzählt habe!" Was macht man mit solchen Gesprächen? Am besten, man vergisst sie möglichst schnell und geht wieder zur Tagesordnung über. Das ist aber leichter gesagt als getan, denn die Sprache kommt ja doch einmal auf das Telefonat. Zumindest erwähnt man, dass man mit X oder Y telefoniert hat. Dann kann es einem passieren, dass man damit konfrontiert wird, was X oder Y meiner Mutter sagte, die es aber so hindreht, wie es ihr passt und dass man nun gar nicht mehr weiß, was wahr oder unwahr ist. Deshalb sollten sich nahe Verwandte oder Bekannte aus Dingen heraus halten, mit denen sie nicht hautnah konfrontiert sind. Auch besonders gute Freunde geraten in die Schusslinie. Wer nicht körperlich erlebt, was meine Frau und ich tagtäglich erleben, kann sich nur schwer ein Bild von der Situation machen.

 

Ein besonders besorgter Bekannter meiner Eltern ergriff sogar ganz intensiv Partei und er machte mir im Auftrag meiner Mutter gewaltige Vorwürfe, ohne jedoch zu erkennen, wie verdreht ihm Sachverhalte geschildert worden waren. Ihn konnte ich nur mit barschen Worten auf Abstand halten. Es ist für Außenstehende unglaublich schwer, sich in die Situation hineinzuversetzen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Dringender Notruf

 

Die Nacht steckt bleiern in den Gliedern,

ich folg´ der Uhr mehr als dem Sinn,

warm und feucht sind jetzt die Federn,

weil ich nicht mehr ruhig bin.

Wache Ängste, wilde Träume,

schlafen kann ich fast nicht mehr,

stets die Angst, dass ich´s versäume

und den Notruf mal nicht hör.

 

Drüben schläft sie und schnarcht laut,

zum Hohn glatt für mein banges Wachen,

weil sie stets auf meine Hilfe baut

und auf viele tausend andre Sachen.

Im Schlaf kann sie getrost vertrauen,

dass Hilfe kommt und das geschwind,

kann auch im Schlaf getrost verdauen,

um drei Uhr drückt sie dann ein Wind.

 

Die Winde nebeln im Gehirn wie doll,

das macht die Arme ganz verrückt,

weiß nicht, was sie machen soll,

der Notruf wird sofort gedrückt.

Ich fahre hoch und hör den Ton,

rechne mit dem schlimmsten Fall,

eile rüber, hör´ die Winde schon,

dann war´n die Winde auch schon all.

 

Und ganze fünf Minuten später

lieg´ ich wieder im Kahn,

Nachtwächter und Sanitäter,

zwischen Ernst und Wahn.

Drüben wird erneut verdaut

und obendrein ein Baum gesägt.

Mir ist die ganze Nacht versaut,

weil sich´s mit´m Schlafen nicht verträgt.

 

 

Mittagessen oder "der Kloß im Hals"

 

Inzwischen haben wir Mittagessenszeit. Meine Frau steht seit einer guten Stunde in der Küche, um uns ein attraktives Mittagessen zu servieren. Mit einem "schau doch mal nach, wo deine Mutter bleibt" schickt sie mich in die Nachbarwohnung. Es ist mal wieder von innen abgeschlossen und ich muss erst alle Schlösser aufschließen. Im Wohnzimmer finde ich sie auf ihrem Lieblingsplatz auf dem Sofa - direkt an der Tür. Das Radio läuft leise im Hintergrund, wie ich es ihr morgens eingestellt hatte. Daneben das Telefon mit der Liste. Wem sie heute wohl wieder welche Schauermärchen über uns erzählte!? Als sie mich sieht, setzt das bekannte Wehklagen ein. Inzwischen tut ihr ja jeder Körperteil weh und sie hat mal wieder viel zu sehr in sich hinein gehört. "Ich muss erst noch meine Tabletten nehmen", heißt die Botschaft, mit der klar ist, dass sie in den nächsten 30 Minuten nichts essen kann. Bis dahin sind aber die Kartoffeln verkocht. Also verabreiche ich ihr erst die Tabletten, die sie vor einer halben Stunde auch selbst hätte nehmen können. Auf eine entsprechende Bemerkung bekomme ich zu hören, dass mein Vater immer daran gedacht habe und sie jetzt schlecht versorgt sei. Na denn...!

 

So langsam kommt Bewegung in ihren Körper. Vorher müssen aber noch die Schuhe gewechselt werden, weil sie in diesen Schuhen mal wieder nicht laufen kann. Ehrlich gesagt taugen alle Schuhe nichts, die sie im Haushalt trägt, aber sie trennt sich nicht davon. Die verkochenden Kartoffeln im Kopf ermuntere ich sie zum Aufstehen. Den Rollator habe ich schon bereitgestellt. Nun muss sie aber erst noch zur Toilette. In Zeitlupe wankt sie - ihrem Rollator folgend - ins Bad. Schwups - die Tür ist wieder zugeschlossen. Das lange Warten beginnt, begleitet vom Jammern, dass heute wieder gar nichts gehe. Nach 10 Minuten öffnet sich die Tür und es ist klar, dass es wieder mal nicht richtig geklappt hat. Jammern, Klagen, weinerliches Gezeter und dann werden noch die Taschentücher gesucht. Endlich sind wir abmarschbereit.

Die Zeitlupenprozession wälzt sich im Schneckentempo über den Flur in unsere Wohnung. Ehe sie meine Frau überhaupt erblickt, kündigt sie nach leichtem Schnuppern lauthals an: "Heute kann ich aber nicht viel essen". Es fügt sich nahtlos ein kompletter Krankheitszustandsbericht an, der im bewährten kränkelnden Tonfall zelebriert wird, der uns schon wochenlang auf den Keks geht. Ihren Rollator stellt sie wieder so ab, dass er direkt vor dem bereits munter flackernden Kamin steht. Ich schiebe ihn zur Seite, wie ich es jeden Tag mache, damit ich mein Feuer überhaupt sehe. Nachdem sie Platz genommen hat, lege ich ihr die Serviette um und befestige sie mit einer speziellen Klammer. Frau Gräfin ist nun bereit zum Essen. Irgendwie gelingt es ihr aber nicht, in den Mittelpunkt zu gelangen. Dort stehen nämlich momentan die Kartoffeln, die Rouladen und der Rotkohl. Die Kartoffeln waren trotz der zeitlichen Verzögerung noch zu retten. Auf Wunsch bekam sie nur eine halbe Roulade, die ich gabelgerecht zerkleinerte, dazu Kartoffeln und Soße. Das Rotkraut wurde verweigert, weil es angeblich nicht zu den Rouladen passe. Dazu würde man grundsätzlich Feldsalat essen, hieß es. Diese Zusammenstellung - Rouladen und Rotkraut - habe sie ja noch nie gesehen. Es interessiere sie auch nicht, dass viele Familien das genau in dieser Zusammenstellung essen. Zehn Minuten lang zerdrückt sie Kartoffeln und vermengt sie mit der Soße - das Fleisch bleibt weitestgehend liegen, weil ihr so übel sei. Sie hat nämlich das kleine Stückchen Speck entdeckt, das zu jeder Roulade gehört. Die Art, wie sie auf dem Teller herumstocherte und dabei das Gesicht verzog, nahm mir und meiner Frau den Appetit. Ihr Ziel ist mal wieder erreicht! Mir hat es bis dahin ganz vorzüglich geschmeckt, denn Rouladen müssen deftig schmecken. Völlig unvorbereitet muss sich meine Frau anhören: "Das hätte der Papa so niemals gegessen!" Dazu ein Blick voller Abscheu und eine Leidensmine, die auf Schonung nach dieser verteilten Unverschämtheit abzielt. Wer meine Frau kennt, weiß, wie gut sie kocht. Irgend ein Teufel hat meine Mutter wieder geritten. Sie schiebt mir den Teller mit dem vermanschten Essen hin und meint, ich könne das ja noch essen. Genauso erging es immer meinem verstorbenen Vater, der sich täglich bei jeder Mahlzeit zwei Portionen hinein schaufelte. Da fällt mir auf, dass sie es bei ihrem selbst gekochten und viel lascher gewürzten Essen genauso gemacht hatte. Zurück bleibt ein Rätsel und besagte Unverschämtheit. Das kalte und jetzt unappetitlich zerflederte Fleisch wandert in den Müll.

 

Nachdem die Teller abgeräumt sind, kommt das Tiramisu. Bedauernd stelle ich laut fest, dass sie das bei der gezeigten Übelkeit ja nun nicht essen könne. Also - so übel war es ihr dann doch nicht, denn Tiramisu isst sie ausgesprochen gern. Mitten im Essen wird plötzlich geheult, was das Zeug hält. Auf die Frage, was denn los sei, kommt aus dem mit  Schokolade verschmierten Mund: "Ich kann hier nicht bleiben - der "Babba" war immer so gut zu mir und du bist so garstig - nein, ich kann hier nicht bleiben!" Ich warte, denn irgend etwas muss ja noch kommen. Dann kam es: "Ich verkaufe alles und kaufe mich in ein ganz vornehmes Heim ein. Die sind besser zu mir. Dann geht halt das ganze Geld drauf!" 

 

Ich sehe sie gleichgültig und teilnahmslos an, was den Heulkrampf noch verstärkt. Mit einem nachdenklichen "Du musst wissen, was du machst" und einem Achselzucken ist die Sache für mich erledigt. Das Heulen weicht einem zornigen Blick. Irgend eine Gemeinheit muss doch jetzt noch kommen. Der gehe ich lieber aus dem Weg und marschiere zum Briefkasten, um nach der Post zu sehen. Für sie war wieder Reklame vom "Goldenen Schnitt", von "Peter Hahn" und "Mona" dabei. Das bringt sie auf andere Gedanken. Gesucht wird schwarze Kleidung, weil sie ja so gar nichts anzuziehen hat - in Schwarz, versteht sich. Trotz schwerem Augenleiden erkennt sie die Schnitte recht gut, nur das Kleingedruckte nicht. Nachdem alle für sie infrage kommenden Stücke lokalisiert sind, werden die erforderlichen Größen ermittelt. Nun kann das fröhliche Bestellen beginnen. Meine Frau übernimmt das.

 

"Fahren wir heute auf den Friedhof?", lautet der unerwartete Themenschwenk. Ein Blick aus dem Fenster zeigt, dass das Wetter eigentlich wieder ganz passabel ist. Als die Entscheidung gefallen ist, kommt die Ankündigung, dass sie sich aber erst einmal ausruhen müsse. So gegen 15 Uhr wäre ganz gut. Eigentlich passt es mir zu diesem Zeitpunkt gar nicht, aber, was soll man machen!?

 

"Ich muss wieder rüber", ist zu hören und sie erhebt sich vom Tisch. Die Serviette wird auf den Tisch gelegt und sie müht sich hin zum Rollator, mit dessen Hilfe sie in Richtung Wohnungstür schleicht. "Mache mir mal die Türen auf!" - was denn sonst? Die Frage ist nur, wie ich am Mutter-Rollator- Verband vorbei kommen soll. Der nimmt fast die gesamte freie Flurbreite ein. Irgendwie gelingt es dann doch. Es folgt die Prozession im Schneckentempo durchs Treppenhaus, Wohnungstür öffnen, der Zug trabt weiter, Wohnungstür wieder zu und endlich Ruhe.

Was hätte alles so harmonisch sein können!

 

 

 

 

 

 

Laute Grabesstille

 

Ein Toter - pardon, er ist verblichen -

liegt in seinem Grab zur Ruh´,

Überlebende kommen angeschlichen

und gesellen sich dazu.

Die Trauer ist wohl ganz verschieden,

wie man sogleich erkennt,

wenn alle Probleme, die hinterblieben, 

man mit Bedacht bedenkt.

So hat ein jeder seine Sicht

und sie sollte man nicht nehmen,

manche kennen nur die Pflicht,

andre sollten sich was schämen.

 

Am Grab gilt ruhiges Gedenken,

denn der Tote hatte keine Wahl,

Ruhe sollte man ihm schenken,

Worte nicht, es wär´ne Qual.

Auch zählt hier nicht das laute Klagen, 

wenn Personen plötzlich nahen!

Man sollte sich viel eher fragen,

ob sie glauben, was sie sahen.

Echte Reue - auch am Grab -

das wäre wirklich angebracht,

denn was der andre einem gab,

hat ihn womöglich umgebracht.

 

 

Friedhofsbesuch theatralisch

 

Kurz vor Drei - Friedhofsbesuch! Ich muss noch den Wagen aus der Garage holen, weil dort der Rollstuhl drin ist. Auf den Friedhof geht es ja nur mit dem Rollstuhl, auch wenn der Rollator dafür besser geeignet wäre. Als ich soweit bin, sehe ich nach meiner Mutter. Beim Öffnen der Wohnungstür ruft sie bereits erwartungsvoll "Ferdiii..." obwohl ich Klaus heiße und bei ihr von Demenz keine Spur ist. "Ich habe ganz fest geschlafen, es geht jetzt nicht so schnell", meint sie. Eigentlich sind ja nur die Schuhe und die Jacke anzuziehen. Aber nein - jetzt braucht sie noch die Granat-Ohrringe, die Kette mit dem Medaillon und die Brosche. Die Zeremonie mit den Ohrringen dauert, denn ich muss erst meine Brille holen. Die kleinen Verschlüsse sind ohne Brille nicht zu bedienen. "Stelle mir auch die Uhr!", erschallt es, obwohl diese am Medaillon unter der Jacke hängen wird, aber "Babba" hat das immer gern gehabt, wenn sie Schmuck trug. So sei es! Die Schuhe sind heute mal vergleichsweise problemlos anzuziehen. Wir gehen in den Flur mit einem "Mach die Zimmertür zu, drehe die Heizung kleiner und stelle die Hausschuhe in den Schuhschrank!" Das war´s dann wieder...! Die Jacke wird mal wieder zum Problem. Nachdem sie diese anzog, steht sie extrem vorn übergebeugt, so dass man nicht an den Reißverschluss kommt. Auf meine Bitte, doch etwas gerader zu stehen, setzt wieder eine Heularie ein, dass sie doch krank sei und ich darauf Rücksicht nehmen müsse. Es kommt nun wieder der Passus mit dem besseren Seniorenheim, dem "Wohnstift" und der dort viel besseren Behandlung. In Wirklichkeit sah sie noch nie ein solches "Wohnstift" von innen. "Hole meinen Stock!" - ich habe ihn bereits längst in Händen - dann "Mache das Licht aus und schließe die Wohnungstür gut ab!" - was denn sonst? Wir sind im Treppenhaus auf dem Weg zum Aufzug. Es sind nur einige Schritte, aber die ziehen sich. Zusammen quälen wir uns in den Aufzug und fahren ins Erdgeschoss. Der Weg zum Auto ist mit fortwährendem Jammern allgemeiner Art begleitet, einer Form des Selbstmitleids infolge der Altersbeschwerden. Am Auto angekommen folgt die Aufforderung: "Lege den Stock ins Auto!" - was denn sonst? Ich öffne die Beifahrertür und sie steigt mit lautem Jammern ein, wie weh ihr der Rücken und die Beine täten. Angegurtet beruhigt sie sich erst mal wieder und ich schließe die Beifahrertür. 

 

Kaum sitze ich im Auto, heißt es: "Ich habe ja meine Brille gar nicht dabei!" Also wieder aussteigen und die Brille holen. Als ich zurück komme, ist ihr das Auto zu kalt und ich werde mit der Frage konfrontiert: "Hast du auch die Wohnungstür wieder richtig abgeschlossen?" Wir fahren wortlos los.

 

Bis zur Umgehungsstraße herrscht erst einmal wohliges Schweigen. Dann kommt die Offenbarung: "Die Rouladen waren heute viel zu scharf!" Ich dachte, das Rotkraut passe nicht dazu, jetzt waren es die Rouladen selbst! "Der Babba" hat nicht gern so scharf gegessen", meint sie und fügt an: "...und ich mag es auch nicht so scharf." Ich entgegne, wir könnten sie aus dem Mittagessen heraus nehmen und Schonkost über "Essen auf Rädern" kommen lassen, denn ich sehe nicht ein, dass ich nun dauerhaft lasch gewürztes Essen akzeptieren soll, obwohl sie davon kaum etwas isst und die Hälfte stehen lässt. Nun ist erst einmal Pause. Nach drei Minuten kommt die Antwort: "Das esse ich auch nicht! Ich habe schon im Krankenhaus nichts gegessen und das esse ich auch nicht!" Eine Lösung hatte sie nicht anzubieten, sondern nur knochentiefe Unzufriedenheit. Wir nähern uns langsam dem Friedhof.

 

Dort angekommen hole ich erst einmal den Rollstuhl aus dem Kofferraum, baue ihn zusammen und lege das dicke Sitzkissen auf. Als ich die Beifahrertür öffne und den Sicherheitsgut entferne, setzt erneut eine Jammerarie ein: "Ach wäre ich doch auch schon hier beim "Babba"! Da ginge es mir besser. Wenn er mich doch nur bald holen würde!" So ganz bei mir dachte ich, das würde er nie machen nach allem, was er erleiden musste. Ich verbeiße mir einen Kommentar und schaue in die triefnassen Äugelchen voller Selbstmitleid. Langsam kommt sie aus dem Auto und setzt sich in den Rollstuhl. "Schließ das Auto ab!" - was sonst? Wir fahren los. Feiner Friedhofskies ist ungünstig für schmale Rollstuhlreifen. Das monotone Jammern konzentriert sich nun auf die Erschütterungen, die sie nicht ertragen müsste, wenn sie mit dem Rollator laufen würde. Das Leiden ist aber im Rollstuhl besser zu zelebrieren als mit dem Rollator. Auf dem Weg zum Grab kommt die Feststellung: "Man trifft überhaupt keine Leute, die man kennt!" - Kunststück, wenn man alle überlebt hat!

 

Das Grab ist erreicht, ein 90-Grad-Schwenk und ich drücke die Feststellbremsen. "Ach Ferdi, warum hast du mich verlassen?" Da war er wieder - der Vorwurf. Das Heulen geht los und ich lasse sie erst einmal allein. Ich gehe dorthin, wo meine eigentlichen Wurzeln sind, nämlich zu den Familiengräbern meiner Vorfahren. Ein drittes Grab kann ich allerdings nicht besuchen, denn das wurde im Krieg durch eine Bombe völlig verwüstet und es waren keine Überreste mehr zu finden. Mein Vater durfte nicht in ein Familiengrab seiner Vorfahren, sondern musste mit dem Wunschgrab meiner Mutter Vorlieb nehmen. Pech gehabt! Als ich zurück kam, beginnt zum wiederholten Mal die Diskussion, dass ich später doch auch mal in das gleiche Grab könne, weil auf dem Grabstein noch genug Platz sei. Auf diese Diskussion habe ich gerade gewartet! Sie meinte, ich könne doch als Urne an ihrem Fußende bestattet werden, wenn sie mal beerdigt sei. An welchem Fußende meine Frau mal liegen soll und ob sie überhaupt verbrannt werden will, bleibt völlig offen. Die Diskussion endet wie immer mit einem barschen "Nein", was wiederum eine Heularie auslöst.

 

So langsam wird es kalt. Sie meint: "Wenn du nach Hause willst, dann fahren wir jetzt." Das wäre ja noch schöner! Später heißt es dann wieder: "Ich wäre ja noch geblieben, aber du wolltest ja schnell wieder nach Hause..." So verkünde ich, dass ich gern noch bleiben würde - Schweigen! Nach weiteren fünf Minuten meint sie, sie wolle jetzt aber nach Hause, weil es ihr zu kalt sei. Als ich die Bremsen löse, erspähte sie, dass aus einiger Entfernung zwei Personen den Weg entlang kommen. "Ach - bleibe noch einen Moment, ich will mich noch vom "Babba" verabschieden". Ein Seitschwenk, ein Stopp und Bremsen angezogen. Als die beiden älteren Frauen näher kommen, beginnt das Klagen: "Ferdi, mein lieber Mann, warum hast du mich verlassen?" Heulen, Taschentuch, Heulen - die beiden Frauen gehen hinter uns vorbei und biegen ab in Richtung Ausgang. Mit absolut klarer Stimme und gefasst wurde ich gefragt: "Hast du die gekannt?", vorauf ich verneine. "Komm, dann fahren wir jetzt heim!" Ich schreibe jetzt lieber mal nicht, was ich dabei dachte.

 

Als wir am Grab entfernter Verwandten vorbei kommen, wird mir barsch ein Stopp befohlen. "Das ist eine Schande, wie das Grab aussieht! Und was die alles geerbt haben! Wenn das der Onkel wüsste, der würde sich im Grab herumdrehen." Ich denke so bei mir, dass sicher fast alle Leichen heute auf dem Bauch lägen, wenn dieser Spruch wahr wäre. Dann geht es weiter.

Zunächst half ich ihr erst einmal ins Auto, um dann mit einer Bürste die Reifen des Rollstuhls vom Sand und Schmutz zu befreien. Nach der Demontage des Rollstuhls verstaute ich ihn im Kofferraum und stieg ein. "Was hast du denn noch so lange gemacht? Hier ist es doch kalt!" Der Satz muntert mich richtig auf und ich starte den Wagen. Während des Heimweges sprechen wir kein Wort und ich genieße die Ruhe. Dafür leises Weinen auf dem Beifahrersitz - rituelles Selbstmitleid pur!

 

Zuhause angekommen wird sie wieder munter: "Gib mir mal den Stock und helfe mir aus dem Auto!" - Was denn sonst? Sie steigt aus und bleibt im Schwenkbereich der Beifahrertür stehen als warte sie auf etwas. Um die Tür schließen zu können, ermunterte ich sie, doch einige Schritte zu gehen. Und wieder kommt eine Heularie mit Kontrollblick, ob es auch Hausbewohner mitverfolgen. "Ich kann doch nicht so, ich bin doch krank, du hast ja gar kein Verständnis" und als Zugabe "Ich kann hier nicht bleiben! Ich verkaufe alles und gehe in ein Wohnstift!" Wieder der Kontrollblick über die Hausfassade, dann setzen wir uns in Richtung Eingang in Marsch. Fünf Treppenstufen, Aufzug, Wohnungstür aufschließen und Licht anmachen. Wer nicht die Wohnung betritt, ist meine Mutter, denn sie will unbedingt die Schuhe im Treppenhaus wechseln und das, obwohl sie die ganze Zeit gesessen hat. Ich schubse sie in die Wohnung und ziehe ihr Jacke und Schuhe aus. Sie entfernt sich unter Protest ins Bad, ich höre noch ein unverständliches Dauergezeter und gehe.

 

Zwei Stunden Unterhaltungsprogramm wo eigentlich Trauer angesagt gewesen wäre und noch jede Menge Ärger obendrein. Möchte vielleicht jemand tauschen?

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Egomanisches Weltbild

 

"Durch und durch bin ich ein Christ,

drum weiß ich auch, wie´s richtig ist,

wenn einem Gutes widerfährt

und man noch mehr davon begehrt.

 

Treue Seelen helfen gern,

sie zu loben liegt mir fern,

denn was ich auch so sagen würde,

Danke sagen, wär´ ne hohe Hürde.

 

So schenk ich lieber diesen Frommen

das, was ich im Überfluss bekommen.

Eine Klitzekleinigkeit und mit Bedacht,

denn soviel ha´m se ja nicht gemacht.

 

Danke spar ich mir und Bitte,

so ist´s bei mir nun mal so Sitte,

erinnere die Lieben stets dran,

was man für Geld verlangen kann.

 

Als Christ kenn ich im Mensch das Gute,

drum saug´ ich´s ihnen aus dem Blute

und freu mich dann recht königlich

über mein Wesen - denn so bin ICH!"

 

 

Wasserkocher und Pulverkaffe

 

Nachmittags gab es früher immer Kaffee und Kuchen, weil meine Mutter jede Woche Kuchen backte und er "weg muss, ehe er schlecht wird". So zog sich ein Käsekuchen oder eine Obsttorte oft durch die ganze Woche. Seitdem Vater tot ist, kocht und backt meine Mutter nicht mehr. Was blieb, ist die liebe Gewohnheit. Meine Frau backt zwar auch Kuchen - recht guten Kuchen - aber nicht so regelmäßig. Ich kann sogar verstehen, dass sie es gerade jetzt nicht macht, damit die Vollpension meiner Mutter und die täglichen Erlebnisse nicht auf insgesamt vier Ereignisse ansteigen. Drei dieser Vorstellungen pro Tag genügen vollkommen!

 

Ein Schritt zur wiedergewonnenen Selbständigkeit ist, dass sich meine Mutter auch mal selbst eine Tasse Kaffee kochen kann. Es soll natürlich Kaffee HAG sein. Den gibt es auch als Pulverkaffee. So kaufte ich ihr einen kleinen Wasserkocher mit Abschaltautomatik und abnehmbarem Behälter. Die Zubereitung des Kaffees ist damit eine Kleinigkeit.

 

Ich schaue mal wieder nach, ob alles in Ordnung ist, denn es könnte ja sein, dass etwas fehlt. Natürlich heißt es sofort: "Mache mir mal eine Tasse Kaffee!" Kein Problem, denke ich und nach einer Minute ist der Kaffee fertig. "Wo willst du ihn denn trinken?", ist meine Frage, denn man weiß ja nie...!? Da haben wir das Problem. Alle Tische sind dekoriert und unbenutzbar wegen der frischen Tischdecken. Kleine Platzdeckchen und Untersetzer werden abgelehnt. Es ginge ja auch ein kleines Tablett, das man auf dem Sofa sitzend auf die Knie stellt. Das kleine Tablett hat aber so ein schönes Motiv und sei ein Geschenk von XY. Das scheidet aus. Also bleibt nur der Umzug in die Küche. Weil dort Krümel nicht so kritisch sind, darf es jetzt auch Kuchen sein. Es dauert eine ganze Zeit, bis die richtige Mischung Milch im Kaffee gefunden ist, worauf die Feststellung folgt, dass der Kaffee jetzt schon lauwarm sei. Bei meinem Vater hätte es immer frischen Kaffee gegeben. Ich brauche nicht lange zu warten, bis wieder die Jammerarie vom besseren Seniorenheim kommt und dass sie hier nicht bleiben könne. Dann würde das ganze Geld "drauf gehen" und es bliebe nicht mehr viel übrig. Sie kennen das ja bereits.

 

Kaffee all, Kuchen all, eine Tasse und ein kleiner Teller bleiben zurück. Das muss jetzt sofort gespült werden. Geschirr darf nicht herumstehen! Also werden mit einigen Litern Wasser und einem guten Schuss Spüli alle drei Gegenstände gespült und abgetrocknet, wie es die gnädige Frau wünscht. Das ständige Gezeter wäre ja auch nicht auszuhalten. Anschließend muss das Becken noch mit Stahlfix poliert werden.

 

Eigentlich wollte ich nur mal nach dem Rechten sehen. Jetzt ist schon wieder eine Stunde dahin gegangen. Wenn Sie Zeit haben, dann könnten Sie ja mal eine Schicht übernehmen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Lebensläufe

 

Wenn Frauen den Sinn des Lebens suchen 

und lieber gern zuhause sind, 

dann erzieh´n sie Kinder, backen Kuchen 

und werden kugelrund geschwind.

 

Die Wohnung wird zum saub´ren Hort,

der Mann soll wissen, was sie macht!

Tagsüber ist ja der Gatte fort,

er muss nicht wissen, dass sie lacht.

 

Sind die Kinder endlich groß, wird´s leer, 

dann droht, dass sie zur Arbeit soll.

Nun müssen Handicaps schnell her, 

das macht die Wartezimmer voll.

 

Dazu die Hausarbeit, so viel und hart,

das Putzen, Waschen, Bügeln,

das bleibt dem Ehemann erspart,

der trägt sie dafür auch auf Flügeln.

 

Im Alter dreht der Spieß sich um,

ist der Mann dann pensioniert.

Die Gattin kümmert sich jetzt drum,

dass er sich stärker engagiert.

 

Und macht er es ihr richtig recht

und nimmt ihr ab die ganze Last,

wird er zunehmend ihr Knecht,

was der Madam natürlich passt.

 

Dann beißt der Arme über Nacht

entkräftet und kaputt ins Gras!

Was hat der Gute nur gemacht?

Gar nicht ausgemacht war das!

 

Lebensläufe sind verschieden,

enden oft mit einem Knall.

Manche Seelen finden ihren Frieden,

nicht jedoch in jedem Fall.

 

 

Besuch kommt

 

Besucher werden von der gnädigen Frau exakt beurteilt, kategorisiert und dann entsprechend behandelt. Sie teilt die Besucher in folgende Kategorien ein:

 

Typ: Gesellschaftliches Ereignis

 

Als Witwe eines Postinspektors und Postamtleiters, und entsprechend ihrer Herkunft aus einer angesehenen Familie und vor allen Dingen ihres Selbstwertgefühls ordnet sie Menschen in gleichwertig, über oder unter ihr stehend ein. Irgendwie machen wir das ja alle, aber sie mit einem speziellen grotesk anmutenden Dünkel.

 

Erstere Einstufungen können durchaus zur Klasse "gesellschaftlichen Umgangs" führen. Hier sind besondere Garderobe und das Zeigen von Schmuck gefragt. Gehobene Lebensart befähigt auch zum akkuraten Sitzen an runden Tischen mit frischen Tischdecken. Dennoch ist Vorsicht geboten, denn auch gehobene Gäste können beim Kuchenessen krümeln oder gar mit dem Metallgliederband der Armbanduhr polierte Armlehnen verkratzen. Adäquat sind natürlich bestes Geschirr oder Sammeltassen, Silberbestecke und Kaffeekannen, die nur ein- oder zweimal im Jahr benutzt werden. Ein kleiner Blumenschmuck auf dem Tisch schafft gepflegte Gastlichkeit, wenn ihn der Besuch mitbringt. Nur beste Dinge werden bei diesem Besuchertyp kredenzt.

 

Typ: Verwandtschaft

 

Verwandtschaft isst bekanntlich immer bei Anwesenheit und krümelt deshalb auch über Gebühr. Verwandtschaft schlingt auch stets die Beine um die Stuhlbeine. Mit den Ellenbogen werden die Tischkanten malträtiert, dass die frisch gebügelte Tischdecke darunter leidet. Verwandtschaft bleibt auch immer so furchtbar lang und man muss auf alles gefasst sein. Hinzu kommen endlose Debatten um Familienprobleme der Anderen, die einem gar nicht interessieren und auch schon x-Mal durchgekaut wurden. Solche Debatten ziehen sich! Womöglich muss man dann noch eine Mahlzeit anbieten, auf die man gar nicht vorbereitet ist. Das hat man alles nicht, wenn man nur mit ihnen telefoniert.

Für diesen Typ gibt es nur eine Lösung - man verlagert den Empfang generell zur Schwiegertochter!

 

Typ: Nette Bekannte

 

Nette Bekannte sind Menschen, die in der Regel Blumen mitbringen und mit einer Engelsgeduld zuhören können. Sie haben von der wirklichen Situation vor Ort oft keinen blassen Schimmer und man kann ihnen alles erzählen, ob es stimmt oder nicht. Ist das Bild der bedauernswerten Witwe und einer vom Sohn so gefühllos behandelten Mutter ausreichend ausgebreitet, so kann bedenkenlos auch die eine oder andere Unwahrheit eingestreut werden, wenn sie zum Bild passt.

Ist man als Sohn persönlich zugegen, dann läuft die Vorstellung ganz anders ab, was die Anpassungsfähigkeit der gnädigen Frau unterstreicht. Dann kann es vorkommen, dass sie mit positiven Besonderheiten, die mir zugeschrieben werden, durchaus renommiert.

Bei netten Bekannten muss nicht immer alles stimmig sein, wenn sie gemocht werden. Hauptsache, sie sind willig, erledigen auch schon mal Botengänge, nehmen artig die schon überall bekannte Tafel MOSER- Schokolade entgegen und rennen arglos in die Dankbarkeitsfalle, die sie schon bald einholen wird. Dennoch besitzen sie einen unverbindlichen Sonderstatus, der ihnen bei erster hörbarer Kritik flugs wieder entzogen wird. Da kennt Madam keinen Spaß!

 

Typ: Gut gezogene Besucher

 

Gut gezogene Besucher sind Menschen, die sich einmal oder wiederholt abhängig machten, weil sie etwas entgegen genommen haben. Das kann Geld für eine Gefälligkeit, ein abgelegtes Kleidungsstück oder ein nicht mehr benötigter Gegenstand sein, wofür Dankbarkeit erwartet wird. Diese Dankbarkeit kann notfalls auch eingefordert werden oder wird zumindest für selbstverständlich gehalten.

 

Die inzwischen große Vertrautheit führt dazu, dass diese Besucher auf speziellen Lappen sitzen müssen, die flugs über Sitzflächen und Armlehnen der Polstermöbel gelegt werden, damit diese nicht durch den häufigen Gebrauch Schaden leiden. Beim Besuchertyp "Gesellschaftliches Ereignis" wäre das natürlich nicht opportun.

 

Der gut gezogene Besucher hat auch keine freie Getränkewahl. Handelt es sich beim Besuch um reine Geselligkeit, so wird erwartet, dass sich der Besucher fügt. So muss er z.B. bestimmte Fernsehprogramme über sich ergehen lassen oder gar Radio hören, damit es der Gastgeberin gefällt. Wenn keine Geselligkeit gewünscht wird, wird einfach abgesagt. Richtig ist, was Madam gefällt! Der gut gezogene Besucher kann einem eigentlich leid tun.

 

Typ: Sohn oder Schwiegertochter

 

Zu den ganz armen Schweinen gehört dieser Besuchertyp, der generell angefordert wird und barsch Weisungen empfängt. Freundlichkeiten werden nicht mehr ausgetauscht und wüsteste Beschimpfungen sind an der Tagesordnung. Auch wird man regelrecht ausgetragen, wenn man nicht so "spurt", wie es erwartet wird. Als zwangsläufig am Ende der Erbfolge stehend, wird täglich Dankbarkeit eingefordert.

  • Sohn und Schwiegertochter kann man auch alle Gemeinheiten an den Kopf werfen, ohne sich dafür entschuldigen zu müssen.

  • Sohn und Schwiegertochter besuchen auch nicht, sondern werden zur Unterhaltung bestellt, wenn Besuch kommt.

  • Man kann sie so schön vorführen und demonstrieren, inwieweit sie bereits "spuren".

Macht man das Spiel nicht mit, dann hagelt es Vorwürfe, wenn der Besuch wieder weg ist. "Arschloch", "Rindvieh" und "Drecksack" sind die gängigen Anreden, die man als Sohn verdauen muss. Pech gehabt!

 

 

 

 

 

 

 

Hypochonders Nulltarif

 

Mensch, was geht es ihr so schlecht!

Schreien sie am liebsten möcht´!

Krank ist sie und das ganz schrecklich,

dieses hat sie sogar schriftlich!

 

Ist privat in einer Kass´,

Ärzte sind für sie ein Spass,

wenn sie machen, was sie sagt,

keiner dumme Sachen fragt.

 

Der Apotheker kennt sie gut,

zieht sogar vor ihr den Hut,

meint, sie soll so weiter machen,

noch lange kaufen seine Sachen.

Pillen, Salben, Tropfen, Binden,

alles nur für ihr Befinden!

 

Und die Kasse, sie muss blechen,

zahlt sie all - die teu´ren Zechen.

Und der Hypochonder schluckt,

schmiert und salbt, s´ist verruckt,

erreicht damit ein langes Leben,

weil´s nix kost´t - so ist das eben...!

 

 

 

Abendbrot - letzte Mahlzeit des Tages

 

Der Abend naht und mit ihm die letzte gemeinsame Mahlzeit des Tages. Wie gewohnt deckt meine Frau den Tisch. Weil die gnädige Frau selbst kein Brot mehr schmieren und belegen kann oder will, sind handliche Häppchen vorbereitet. Es ist wieder eine Auswahl von Häppchen mit Fleischsalat, Wurst, Schinken und Käse sowie eine kleine Schale mit süß-saueren Dingen, wie Kürbis, Maiskölbchen, Gürkchen und ähnlichem. Dazu gibt es Pfefferminztee. Für die gnädige Frau steht noch ein Teller mit frischen dünnen Apfelschnitzen und geschälten Walnüssen bereit, weil das angeblich gut für´s Hirn und die Verdauung ist.

 

Kurz vor 19 Uhr schellt es, Madam kommt mit ihrem Rollator, dem Etui mit den Taschentüchern und einem Apfel für den, der bereits geschält ist. Für den Rollator bleiben nur maximal 4 Finger übrig. Diesen schiebt sie halb aufgeklappt vor sich her, was eher einem Hindernis als einer Hilfe gleicht. Dass das Ding auch Handbremsen hat, habe ich ihr schon hundertmal erklärt. Doch - das interessiert sie nicht. Wieder stellt sie die Gehhilfe genau vor den Kamin, als wüsste sie, dass mich das ärgert. Ihr Weg führt wieder schnurstracks ans Kopfende des Tisches und sie nimmt einen knappen Meter vom Tisch entfernt Platz. So lange Arme hat kein Mensch, um jetzt an den Tisch zu kommen. Also muss ich sie mitsamt Stuhl an den Tisch heranrücken. Irgendwann macht das der Stuhl wohl nicht mehr mit. "Lege mir mal die Serviette um!", hieß die noch verhältnismäßig freundlich formulierte Aufforderung, der nicht selten ein lockeres "...,du Arschloch.." folgt, wenn ich sie auf Höflichkeitsfloskeln aufmerksam mache. So ganz nebenbei lässt sie die kleine Klammer der Serviette auf den Boden fallen, was sie mit "ich kann heute wieder gar nichts festhalten..." kommentiert.

 

Ihr Blick schweift nun über die Häppchen. "Von wem ist denn die Wurst?", lautet die erste Frage und "Wurst hat der Babba immer beim Neupert oder beim Sebastian geholt, was anderes haben wir gar nicht gegessen...!" folgt. Wurst aus dem Supermarkt mag sie nicht, was ich teilweise auch verstehen kann. Jedoch bei Rügenwalder Teewurst, Frankfurter Würstchen der Firma Wirth und vielen anderen Markenartikeln ist die Haltung absurd. "Wo habt ihr denn das Brot geholt?", lautet die nächste Frage, als wenn wir schlechte Lebensmittel einkaufen würden. Irgendwann weiß sie dann Bescheid und nimmt sich einige Häppchen vom Teller. Zunächst wird mit ganz spitzen Fingern und einem Gesicht gegessen, als hätte sie gerade etwas Ungenießbares vom Teller genommen. Schmeckt es gut, dann wird gefuttert, liegt der Geschmack nicht so ganz auf ihrer Linie, dann lässt sie wissen, dass sie gar nicht viel Hunger hat. Sie legt dann die Häppchen wieder zurück und wendet sich ihrem Apfel und den Nüssen zu.

 

Zu einem Abendbrot gehört natürlich auch ein zünftiges Thema. Heute soll es mal wieder ums Testament und ums Erben gehen, obwohl sich für dieses Thema niemand mehr interessiert. Ich reagiere gar nicht darauf, was mir die Frage einbringt, warum ich so komisch sei. Das habe bestimmt damit zu tun, weil ich den Pflichtteil meines Vaters nicht bekommen hätte. Es sei aber später doch alles einmal mir, weshalb ich doch auch gut zu ihr sein könne. Aus irgend einem unerfindlichen Grund glaubt sie, ich pflege sie ungern und sei bewusst garstig zu ihr. Nun ja, Herzlichkeit ist nun mal keine Einbahnstraße. Es kommt immer das zurück, was man selbst auf den Weg bringt. "Lass mich in Ruhe, du weißt ja nicht, was du sagst!", entgegne ich und gebe damit das für eine Debatte entscheidende Stichwort. "Das hättest du wohl gern! Mich für verrückt erklären zu lassen, damit du schneller ans Erbe kommst!", quillt es aus ihrem Mund, während sie einen flotten "Drecksack" nachschob, damit der Satz auch Wirkung entfaltet. Meine Frau kämpft inzwischen gewaltig mit der Beherrschung, behält aber die Fassung. Schließlich spielt sich das ja jeden zweiten Tag ab. Keinem schmeckt das Essen mehr so richtig, die Stimmung ist nachhaltig vergiftet.

"Was gibt es denn heute im Fernsehen?", lautet der Themenwechsel. Nun weiß man ja, dass sie Filme, Krimis, Sport, Politik, Magazine und Dokumentarberichte nicht mag. Also bleiben nur Hansi Hinterseher, Carmen Nebel, Gotthilf Fischer und Florian Silbereisen übrig. So etwas gibt es heute tatsächlich, was den Abend rettet. Wenn sie sich auch mal für etwas anders interessieren würde, dann könnten wir ja gemeinsam fern sehen. Das ginge aber nur, wenn wir uns ihrem Programmwunsch anschlössen. Nein - Danke!

"Dann stell mir mal den Südwestfunk ein!", womit der Abgang vom Abendbrot eingeleitet ist. Madam erhebt sich, lässt so ganz nebenbei die Serviette auf den Boden fallen, damit sie ihren Satz "Ich kann heute wieder gar nichts festhalten..." los wird. Während wir noch essen, marschiert sie bereits mit ihrem Rollator zum Ausgang, um mit einem "Will mir denn keiner mal aufmachen?" erneut Hilfe einzufordern. Erleichtert darüber, dass der Spuk gleich vorbei ist, erhebe ich mich und bringe sie in ihre Wohnung nach nebenan. Zurück bleibt meine Frau, der der Appetit mal wieder komplett vergangen ist. Sie frisst es wieder in sich hinein!

 

In ihrer Wohnung angekommen laufen nun die Vorbereitungen für das Abendprogramm an, denn die Nachbarin aus dem Erdgeschoss hat sich angesagt. Sie fällt unter den Besuchertyp "gut gezogener Besucher". Jetzt wissen Sie, was die ältere Dame erwartet.

 

 

 

 

 

Vom Sterben und Erben

 

Sterben und Erben im bunten Reigen,

so macht man sich Besitz zueigen,

sammelt so sehr viel Besitz,

und ist auf jedes Erbe spitz.

 

Wer das stets als normal verspürt

und ansonsten keinen  Finger rührt,

unterstellt dies Streben dann im Nu

völlig normal auch allen and´ren zu.

 

Trifft ein Mensch mit solchen Possen

auf anders geartete Zeitgenossen,

die das winkende Erbe gar nicht lockt,

hat sich der Erblasser glatt verzockt.

 

Vor dem Tod schon Dank zu erben,

Sklaven genießen vor dem Sterben,

ist für manchen himmlich schön,

irgendwie wird es schon geh´n.

 

Freiheit ist ein hohes Gut

und manchem liegt es glatt im Blut,

der Versuchung "Erben" zu widerstehen,

in die Knechtschaft nicht zu gehen.

 

Was macht nun so ein armer Wicht,

wenn sein Vermögen gar nicht sticht,

weil er als Preis ist viel zu teuer?

Er ärgert sich ganz ungeheuer!

 

Zu einem Erbe und dem der´s hat

gehört ein Charakter mit Format.

Steht der bei der Pflege im Vordergrund,

ist auch das Verhältnis kerngesund.

 

Viele Jahre gemeinsam leben,

nach Harmonie tagtäglich streben,

begraben jeden Streit und Hass,

so macht dann auch das Erben Spass!

 

 

 

Alles für die Nacht vorbereiten

 

Wenn ich schon mal da bin, dann kann ich ja auch gleich alles für die Nacht vorbereiten, damit ich nachher nicht wieder so viel zu tun habe. Mein restliches Abendessen kann ich mir ja auch nachher noch runter würgen.

"Mach schon mal das Bett!", lautet die Aufforderung, obwohl ich schon längst damit beschäftigt bin. Zunächst wird die Tagesdecke halb nach rechts und dann noch einmal auf ein Viertel zusammengefaltet, damit das verwaiste Bett gerade noch bedeckt ist. Nach dem Zurückschlagen des Deckbettes werden beide Federkissen entfernt und auf einen Hocker gelegt. Weil in den Kissen unterschiedliche Federfüllungen seien, sei das eine Kissen schwerer als das Andere, heißt es. Logischerweise muss das leichtere Kissen auf dem schwereren Kissen liegen und nicht umgekehrt. Dann wird das separate Nackenhörnchen positioniert und mit einem kleinen Frotteehandtuch abgedeckt. In der Hälfte des Bettes wird noch eine weiteres Tuch ausgelegt - für alle Fälle, die allerdings noch nie eintraten. Das Heizkissen muss ganz genau ausgelegt und der Stecker in die Steckdose gesteckt werden. Auf dem Nachttisch wird nun ein Tempotaschentuch ausgebreitet, auf das ein Glas mit Wasser und die erste Tablette des nächsten Morgens abgelegt werden. Das Glas wird natürlich mit einem Bierdeckel abgedeckt, damit sich kein Insekt hinein verirrt. Der Wecker muss in Position gebracht und scharfgeschlossen werden. Aus dem Nachttisch entnehme ich die beiden kleinen Haarnetze und bringe sie zusammen mit dem Nachthemd ins Bad. Dort ist Madam bereits dabei, die Ablage unter dem Spiegel abzuräumen, damit genug Platz für die Salben, die Gebissdose und andere Utensilien vorhanden ist. Auch vier Kleiderbügel unterschiedlicher Beschaffenheit und zwei Paar Schuhe zum Wechseln werden bereit gelegt. Alles ist nun für die Nacht fertig und wartete auf den Einsatz.

 

Weil heute Donnerstag ist, müssen die Tablettenrationen für die neue Woche eingeteilt werden. Dazu gibt es Tablettenspender, auf denen die Wochentage und die Tageszeiten stehen, damit man die Tabletten auch richtig dosiert. Hier benutze ich für die 16 Medikamente ein Kleinteilemagazin in Taschenformat, in dem sich alle Tabletten befinden. So habe ich stets den Überblick, welches Medikament zur Neige geht und kann sofort nachbestellen. Ebenfalls dazu gehört ein Tablettenplan, aus dem Mengen und Tageszeiten hervor gehen. Der Kasten ist so beschriftet, dass man nicht nur den Tablettennamen, sondern auch die Indikation ersehen kann. Medikament für Medikament wird nun auf die Kästchen verteilt, bis der Plan abgearbeitet ist. Der ganze Vorgang dauert ca. 15 Minuten, wenn man dabei nicht gestört wird. Eines habe ich geschafft: Bei dieser Tätigkeit werde ich nicht mehr gestört! Das wäre auch fatal, denn ein falsches Medikament, zum falschen Zeitpunkt eingenommen, kann eine Katastrophe auslösen.

Nun ist es geschafft, jetzt kommen nur noch der Fernsehabend, das Auskleiden und das nervige Zubettgehen. Doch dazu später mehr.

 

 

 

Der Fernsehabend

 

Wie schon erwähnt, kommt heute der Besuchertyp "gut gezogener Besucher". Folgerichtig werden nun die beiden Sessel vor den Fernseher gerückt und mit den diversen Lappen belegt, damit bei Knabbern und Lutschen von Schokolade nichts an die Polstermöbel kommt. Wohlgemerkt: meine Mutter isst und lutscht nichts! Es ist ihre zartfühlende Art, sich auf die gleichen Lappen zu setzen, die sie ihrer Besucherin zumutet, damit diese sich nicht diskriminiert fühlt. So lässt sie den gleichen Verdacht der möglichen Unsauberkeit auch für sich gelten. Einen Unterschied macht sie nur in den Waschintervallen der Lappen, die sie so kennzeichnete, dass sie stets weiß, welche Lappen die der Besucher sind.

 

Auf den kleinen Beistelltisch legt sie nun eine Frühstücksunterlage und einen Untersetzer für Gläser. In eine kleine Schale legt sie Gebäck oder Pralinen, die sie alle von Hand aussortiert. Das muss für heute Abend reichen! Zu trinken gibt es heute Apfelsaft, der natürlich auch schon eingeschenkt wird. Die Besucherin hat das zu mögen! Madam spendiert auch einige Watt Licht. Dazu muss die kleinste Lampe herhalten, die im Raum zu finden ist. Das schafft Gemütlichkeit und Wohlbehagen. Nun kann der Besuch kommen.

 

Die gnädige Frau möchte vorher noch ausgezogen werden und wünscht deshalb Nachthemd und Morgenmantel. Also gehen wir ins Bad und ziehen in umgekehrter Reihenfolge aus, was wir morgens angezogen haben. Jedes Kleidungsstück muss auf einen separaten Kleiderbügel und kein Kleidungsstück darf den Boden berühren. Auch die Unterwäsche wird für die Nacht gewechselt, ehe das Nachthemd übergestreift wird. Die Hausschuhe müssen gegen offene Schuhe ausgetauscht werden, damit man die Beine leichter auf die Fußschaukel legen kann.

 

Madam sitzt endlich vor dem Fernseher, die Beine liegen auf der Fußschaukel und der Fernsehabend kann beginnen. Ich gehe wieder zurück in meine Wohnung und warte, bis die Nachbarin schellt. Diese hat die Angewohnheit, erst nach der Tagesschau und einem Gang auf die Toilette zu erscheinen. Dann ist es exakt 20 Uhr 20, wenn beim "Tatort" der alles entscheidende Mord passiert, dessen Aufklärung man sich dann einundeinhalb Stunden lang ansieht. Es schellt just in diesem Moment und ich öffne der Nachbarin die Tür zur Wohnung meiner Mutter. Ich schließe die Tür und wende mich dem "Tatort" zu, während Florian Silbereisen in der Nebenwohnung zu großer Form aufläuft.

 

Meine Frau muss mir erst noch erzählen, was ich gerade versäumte, ehe ich mich der weiteren Aufklärung zuwenden kann. Heute ist wieder der einarmige Unsympathische der Kommissar - ein Grund, sich schon mal auf dem Sofa lang zu legen.

 

Der Krimi hat wieder mal lange tiefenpsychologische Passagen ohne jede Handlung, wobei mir so langsam die Augen zu fallen. Nach wenigen Minuten bin ich im Land der Träume. Irgendwie schaffe ich es immer wieder, genau zum Ende des Krimis aufzuwachen. Dabei bestätigt sich, was ich schon seit einer Stunde erahnte. Wenn man regelmäßig Krimis schaut, kann einem nichts mehr überraschen.

 

Meine Frau ist schon zu Bett gegangen, weil ich so geschnarcht hätte, sagt sie. Das war also unser Abend und mir wird bewusst, dass fast alle Abende momentan so ausgehen. Daran muss sich unbedingt etwas ändern!

 

 

 

 

 

 

 

Altersstarrsinn

 

Viel geredet, nichts gesagt,

Schimpfworte nicht vergessen,

arg gelogen, dumm gefragt,

vom Starrsinn halt besessen.

 

Die Mischung ist mitunter tödlich,

wird der Bogen überspannt.

Ist man cool und müht sich redlich,

ist eine Tragödie abgewandt.

 

Wehe, lässt man sich verleiten

zur drohenden Eskalation,

steuert gegen nicht beizeiten,

passiert das Unglück schon.

 

Man müsste frechen Mäulern glatt

sofort, wenn sie ´s nicht lassen,

zum eig´nen Schutz und satt

die Mäuler stopfen lassen.

 

Wo böse Art und freches Wesen

ungeniert brutal zerstören,

müsste man die Leviten lesen!

Das würde sich gehören!

 

Ist jedoch Dummheit mit im Spiel,

die keine Grenzen kennt und mag,

ist jedes Wort einfach zuviel,

was bleibt, ist Ärger, Frust und Plag´!

 

 

Endlich kommt die Nachtruhe

 

22 Uhr - das Fernsehprogramm ist gelaufen und die beiden Damen haben sich gut unterhalten. Der "Tatort" ist wie gesagt auch gelaufen und ich schaue mal, wie es bei der gnädigen Frau weiter geht. Als ich öffnen will, sind wieder oben und unten alle Schlösser abgeschlossen. Mühsam öffne ich und stelle fest, dass sich die Versammlung bereits auflöst. Die Nachbarin nimmt das restliche Gebäck und die Pralinen aus der Schale, um sie in ihrer Handtasche als "Betthupferl" zu verstauen. Meine Mutter legt bereits alle Lappen sorgfältig zusammen, damit sie nicht verwechselt werden. Mir bleibt nur noch übrig, den Fernseher und den Receiver auszuschalten und auf Geheiß die Heizung abzudrehen und die Lampen zu löschen.

 

Madam wünscht nun, dass das Heizkissen eingeschaltet wird. Also erfülle ich diesen Wunsch und schalte auch die Nachttischbeleuchtung ein. Inzwischen wartet meine Mutter bereits in der Küche auf ihre zwei Tabletten, die sie zur Nacht einnehmen muss. Sie behauptet mal wieder, dass sie Probleme mit dem Verschluss der Mineralwasserflasche habe. Dabei stehen permanent drei Flaschen mit vorher geöffnetem Verschluss im Kühlschrank.

 

Nach den Tabletten geht es ins Bad, um die restlichen Verrichtungen zur Nacht in Angriff zu nehmen. Zunächst zieht sie sich das Nachthemd wieder über den Kopf, damit Schultern und Rücken mit VOLTAREN-Salbe eingerieben werden können. Überall da, wo es schmerzt, muss Salbe aufgetragen und so lange eingerieben werden, bis kein Fett mehr zu spüren ist. Danach kommen die Füße dran, die wegen der trockenen Hornhaut gleich mit drei verschiedenen Salben traktiert werden, wie bereits frühmorgens geschehen. Das Ausziehen der Strümpfe wird vorher natürlich mit allen möglichen Anweisungen begleitet, die Laufmaschen vermeiden sollen. Nach der Prozedur darf ich wieder das Dienstbotenhandtuch benutzen, nachdem ich meine Hände gewaschen und von der Salbe befreit habe.

 

Madam wascht sich nun das Gesicht und die Arme und trocknet sie gewissenhaft ab, ehe die Nachtcreme aufs Gesicht und den Hals aufgetragen wird. Bis die eingezogen ist, kann es schon einige Minuten dauern. Dann ist es soweit und die Haare müssen ausgekämmt werden, ehe die beiden Haarnetze in einer genauen Form aufgesetzt werden. Die gnädige Frau wäre jetzt eigentlich fertig für die Nachruhe, wenn jetzt nicht noch die Strümpfe zu waschen wären. Hierfür muss wieder eine ganze Kappe voll flüssiges Waschmittel auf drei Liter Wasser dran glauben. Die dünnen Strümpfe werden zweimal gewaschen und dreimal gespült, ehe sie in ein Handtuch eingeschlagen und vorgetrocknet werden. Als die Strümpfe zum Trocknen an der Heizung hängen, muss noch ein Pullover dran glauben, der ebenfalls ausgewaschen und zum Trocknen aufgehängt wird. Es ist inzwischen kurz vor 23 Uhr. Ein letzter Gang aufs stille Örtchen und es ist geschafft. Die gnädige Frau schiebt ihren Rollator ins Schlafzimmer, dessen Fenster total verbarrikadiert ist, damit möglichst kein Luftzug an ihren edlen Körper kommt.

 

Mit einem "Hast du auch überall das Licht aus gemacht und die Heizung herunter gedreht?" setzt sie sich auf die Bettkante und sortiert ihre Hausschuhe und den Rollator so, dass sie nachts gut aufstehen kann, wenn sie mal müsste. Endlich legt sie sich und ich lege ihr das Heizkissen auf den Bauch. Nachdem ich den Stecker des Heizkissens ziehe, ist meine Arbeit erledigt und ich wünsche ihr eine gute Nacht. Sie entlässt mich mit einem "Schließe aber die Tür gut zu...!" und ich gehe.

 

Als ich abschließe, fällt wieder mal eine Zentnerlast von meinen Schultern und ich gehe zurück in unsere Wohnung. Es ist 23 Uhr 15 und meine Frau schläft bereits fest - zu spät für ein wenig Familienleben!

 

 

Fazit

Nun mag es ja Leser geben, die diese Zeilen für amüsant halten. Auch mag die dezidierte Art der Schilderungen erheitern. Lachen kann ich selbst darüber nicht, denn das Lachen ist mir schon lang vergangen.

Vor einigen Jahren nahm ich mir vor, für meine Eltern im Alter zu sorgen und habe das auch konsequent umgesetzt. Welche Probleme damit verbunden sein würden, habe ich mir so nicht ausgemalt. Dabei geht es gar nicht um Arbeit oder den Zeitaufwand, sondern um das Wie. Nie hätte ich gedacht, dass geriatrische Probleme so gravierend sein können. Es fällt mir schwer, mich auf die Art meiner Mutter einzustellen. Wäre sie bereits mit Demenz gestraft, so könnte ich alles noch verstehen. Dass sie aber völlig klar im Kopf und nur von Grund auf böse ist, habe ich nicht geahnt. Mein Vater wusste das und hat sich dementsprechend verhalten. Sein scheinbar bequemer Weg wird nun zu meinem großen Problem. Dennoch führe ich das zu Ende, was ich begonnen habe und hoffe, dass ich die Kraft dazu habe. Noch wichtiger ist aber, dass meine Frau durchhält, denn morgen fängt das gleiche Spiel wieder von vorn an - Tag für Tag, Woche für Woche - wer weiß, wie viele Jahre noch...!

Im April 2008

 


 

Harte Zeiten

 

Etliche Monate sind vergangen und der Alltagsschmerz führte zu immer schwerer zu bewältigenden Situationen. Unsere Nerven waren auf das Äußerste angespannt und der Druck auf die Psyche wuchs bei allen Beteiligten.

 

Noch immer war zu spüren, dass meine Mutter den Verlust ihres geliebten Untertanen nicht verkraftet hat und die alte Zufriedenheit wollte sich einfach nicht einstellen. Was ich auch machte, es war nicht so, wie es mein Vater für sie erledigte. Dabei ging es gar nicht um die Qualität, die jetzt eindeutig besser war. Es war die fehlende Möglichkeit des Anweisens und der Kontrolle, des Gängelns und des Strafens. Es ging um Macht und Unterwerfung.

 

Hierbei entstanden kuriose Szenen, die ich mir vorher nie hätte träumen lassen. Der Einfallsreichtum kannte keine Grenzen und ist nur anhand einiger Beispiele nachzuvollziehen. Obwohl mich jede dieser Situationen in höchste Erregung versetzte, hoffe ich, dass ich die Situationen nun objektiv beschreibe.

 

 

 

Die sozial unverträgliche Kranke

 

Mitte April 2008 waren die täglichen Spannungen bei der Morgentoilette meiner Mutter so groß, dass wir uns nur noch stritten. Meine Nerven lagen absolut blank und ich beauftragte einen mobilen Krankenpflegedienst mit dem morgendlichen Waschen und Ankleiden. Die Umstellung ging eigentlich rasch vonstatten und man hörte kein lautes Wort, keine Jammerarie und keine Beschwerden. Alles ging harmonisch vonstatten. Nervig war nur die Uhrzeit, zu der die Pflegerinnen kamen. So musste ich bereits um 6 Uhr fix und fertig sein, damit ich dafür sorgen konnte, dass sich meine Mutter rechtzeitig im Bad befand und ich dem Pflegepersonal öffnen konnte. Tag für Tag um 5 Uhr 30 aufstehen - das stresst auf Dauer auch!

 

Das ging so zwei Wochen lang, bis sie nachts aufstand und so unglücklich stürzte, dass sich ein riesiges Hämatom bildete. Im Bereich des Oberschenkelhalses war die Schwellung so groß, wie die Hälfte eines Balles. Da sie das Medikament Cumardin zur Blutverdünnung einnahm, war innerhalb weniger Stunden das gesamte Bein, der Unterleib und der Oberschenkel des anderen Beines blutunterlaufen. Ich setzte sofort das Cumardin ab, was sich später als richtig erwies. Der hinzugezogene Arzt brachte es nicht fertig, sie ins Krankenhaus einzuweisen, weil sie partout nicht wollte. Irgendwas sagte ihr, dass sie nicht mehr nach Hause käme. Nach vier Tagen verhärtete sich der Bluterguss derart, dass an eine normale Verteilung des Blutes nicht mehr zu denken war. Nun musste sie ins Krankenhaus.

 

Noch am gleichen Tag fuhr ich sie ins Krankenhaus, wo wir uns natürlich in der chirurgischen Notaufnahme melden mussten. An einem Montagmorgen herrscht dort Hochbetrieb, wie ich es vor einem halben Jahr bereits zusammen mit meinem Vater erleben musste. Gut dreißig Personen warteten darauf, behandelt zu werden. Meine Mutter glaubte, mit ihrem Verhalten eine bevorzugte Behandlung zu erhalten. Also jammerte sie laut herum und erzählte jeder Person, die in ihre Nähe kam, wie schwer verletzt sie sei. Inzwischen hatte ich die Formalitäten erledigt und die Zusage erhalten, dass sie untersucht würde, sobald der zuständige Chirurg frei sei.

Obwohl die Sache höchstens 40 Minuten dauerte, bis sie behandelt wurde, hörte sie nicht auf zu zetern.

 

Sprüche wie: "Es gibt so gute Krankenhäuser und hier bringst du mich hin!" gefielen Ärzten und Schwestern verständlicherweise gar nicht, zumal die Ärzte nahezu 36 Stunden im Einsatz sind.

 

Auch das ständige Herumgeplärre, sie sei Privatpatient und könne eine bevorzugte Behandlung verlangen, stimmte alle Herumstehenden und -sitzenden nicht gerade positiv. Zumindest merkten die Leute, wie sehr ich mich für das asoziale Verhalten meiner Mutter schämte. Mir gelang es aber nicht, dass sie den Mund hielt und ihre unverschämten Redensarten einstellte.

 

Nach kurzer Untersuchung stand fest, dass eine sofortige Operation wegen des Cumardins nicht erfolgen konnte, doch die fünf Tage, in denen es abgesetzt war, waren ein unschätzbarer Zeitgewinn. Wir sollten wieder nach Hause fahren und auf ein freies Bett im Privatbereich warten. Am nächsten Tag konnte sie einrücken.

 

Den Transport ließ ich diesmal von einem Krankentransportunternehmen durchführen, das sie bis in die Notaufnahme brachte. Das Spiel des Vortages wiederholte sich wieder und sie beruhigte sich erst, als sie in einem Krankenzimmer war. Ich half ihr, die Wäsche und die übrigen Utensilien einzuräumen und verabschiedete mich schnell. Auf dem Nachhauseweg konnte ich aufatmen. In den folgenden Tagen wurde sie insgesamt drei Mal verlegt, bis sie schließlich so untergebracht war, dass es mit den übrigen Patienten verträglich war. Man schnitt ihr das Bein auf und entfernte das eingedickte Blut. Danach wurden die Verfärbungen rasch wieder hell. Um die Ursachen für die Stürze zu minimieren, wurde ihr noch ein Herzschrittmacher eingesetzt.

 

Für alle Eingriffe wäre eine Patientenverfügung gut gewesen, die sie jedoch kategorisch aus Misstrauen ablehnt. Selbst eine Ärztin, die sich sehr viel Mühe mit ihr gab, konnte kein Umdenken bewirken. Sie sei klar im Kopf und könne immer selbst bestimmen, was zu tun sein. Das dürfte ein großer Irrtum sein.

 

Während der zwölf Tage besuchte ich sie täglich, um mir ihr Gezeter anzuhören. Ständig mäkelte sie am Essen herum und ließ fast alles stehen. Zum Ausgleich erhielt sie Infusionen und zusätzlich Bluttransfusionen. Da sie auf ihren täglichen geschälten und geschnitzten Apfel nicht verzichten konnte, suchte sie sich jeden Tag einen Dienstboten, der diese Verrichtung erledigte. Zeitweise lag sie mit einer arbeitslosen Patientin zusammen, die über 150 Kilo wog und eine Magenverkleinerung erhielt. Sie lag auf der Privatstation, weil Vater Staat alle Kosten über Hartz-IV übernahm. Sie war sofort das Opfer meiner Mutter und nahm dafür im Gegenzug alle möglichen Kleinigkeiten an. Eine andere Patientin hielt es nur eine Nacht bei ihr aus und fand es unmöglich, dass meine Mutter sofort die Toilette und das Waschbecken desinfizierte, nachdem sie es benutzt hatte. Auch fand sie die ständige Nörgelei und die Dauerreportagen über ihren Zustand unerträglich. Am Ende des Krankenhausaufenthalts lag sie zusammen mit einer gleichaltrigen Witwe, die sehr belesen und weltoffen war. Von dort bekam sie so richtig die Meinung gegeigt, was ihr auch missfiel. Alle - auch das Krankenhauspersonal - waren froh, als sie endlich entlassen wurde.

 

Der Soziale Dienst des Krankenhauses riet ihr, zunächst zwei Wochen ins Martin-Luther-Stift zu gehen, damit man mit ihr Reha-Maßnahmen unternehmen könne. Es war das Ziel, dass sie zuhause wieder voll lebenstüchtig sein sollte. Das lehnte sie jedoch barsch ab, weil sie genau wisse, dass sie dann nie mehr aus dem Heim käme. Das sei ja nur der Wille ihres Sohnes, der sie loswerden wolle. Da war sie wieder, die alte unverschämte Art, mit der sie inzwischen alle Menschen in ihrem Umfeld vergrault. Die Folge war, dass sie zuhause sehr wackelig auf den Beinen war und mehrmals täglich zu Boden sackte. Nun war der Notruf zwischen beiden Wohnungen wichtiger als zuvor.

 

Zuhause musste noch zwei Wochen lang ein Mittel gegen Blutgerinnung gespritzt werden, was der Pflegedienst übernahm. Im gesamten Mai wurde sie morgens professionell gepflegt. Plötzlich missfiel ihr das frühe Aufstehen und ich musste den Pflegedienst abbestellen. Sie hatte sich ohnehin bereits selbst gewaschen und man musste ihr nur noch beim Ankleiden helfen. Das konnte ich dann auch selbst wieder übernehmen. Verbunden war das wieder mit den gleichen unerfreulichen Morgendebatten, denen ich aus dem Weg zu gehen versuchte. Es gelang mir nicht und meine zweiten Vornamen waren weiterhin "Arschloch", "Drecksack" oder "Rindvieh". Mehrmals redete ich sie auch so an, was ihr natürlich missfiel - Schlüsse zog sie daraus nicht.

 

 

 

Kurze Reise, langer Weg

 

· Herzklopfen, Herzrasen, Herzschmerzen, Schwindel total. · Der Boden unter den Füßen wird weich, sanft, watteähnlich, ich schwebe. · Geräusche entschwinden, Schneeflocken klirren grotesk im Flug. · Ein kalter Hauch umwindet die Seele, gefrorener Watte gleich. · Das Jetzt ist ausgelöscht wie eine kalte Flamme in einem Vakuum. · Am fernen Horizont ein dünner silbrig glänzender Streifen. · Eine seltsame Kraft zieht dorthin. · Dort ist das Licht. · Weißes, grelles Licht. · Ich fliege ins Licht. · Aber das Licht schwenkt weg - es ist plötzlich fort. · Die Watte kratzt, die Schneeflocken schmelzen. · Ich spüre meinen Körper wieder. · Stimmen klingen hohl und doch so vertraut. · Ich kann sie hören aber nicht verstehen. · Blaues Licht, greller Schein. · Farben fließen hinter meinen Augenlidern ineinander. · Herzklopfen bis in die Ohren. · Vorsichtiges Blinzeln, banger erster Blick. · Umrisse, Schemen, weich gezeichnet, verschwommene Realität. · Vertraute Worte durchdringen mein Gehirn. · Ist das die Wirklichkeit, hier und heute oder schon morgen? · Fragendes Suchen nach dem Gestern, nach dem was war. · Weißes Bettzeug, Instrumente, Schläuche. · Alles hängt an Apparaten. · Nichts ist mehr, wie es war. · Ich bin älter geworden. · Nein, ich fühle mich nur so, aber ich lebe! · Es war eine kurze Reise aber ein langer Weg. · Ich wache auf - es ist 3 Uhr 45. · Schweißnass bis auf die Haut! · Es war nur ein Traum. · Warum?

 

 

 

Notfall oder Schauspielerei?

 

An meiner Mutter ist eine große Schauspielerei verloren gegangen. Wäre das Stück "Der eingebildete Kranke" eine Frauenbesetzung, so wäre sie glatt ein Weltstar geworden.

 

Argumentativ kommt meine Mutter selten sehr weit, denn sie baut selten auf der Wahrheit auf. Vielmehr schildert sie alles so, wie sie es empfindet. Dabei vermischen sich Vorurteile, fragwürdige Wahrnehmungen und das Bild miteinander, das sie gern nach Außen verkörpern möchte. Immer weniger Menschen ihres Umfelds nehmen ihr die Argumente ab, die sie vorbringt. Also muss ein Erlebensfall inszeniert werden, in den man viele "Zeugen" einbinden kann.

 

Inszenierung eines Sturzes

 

Eine dieser Inszenierungen spielte sich Anfang Juli 2008 ab, als wir für vier Stunden auf einer Geburtstagsfeier waren. Meine Mutter ist es gewohnt, dass ich gegen 22 Uhr noch einmal nach ihr sehe und noch einige Handreichungen mache. An diesem Abend wusste sie, dass es etwas später werden kann und bat sie, keine zusätzliche Risiken einzugehen und zeitig ins Bett zu gehen. Das war wohl auch der Fall.

 

Gegen 24 Uhr kamen wir nach Hause. Wenn man die Treppe hoch kommt, kann man unter dem Türspalt sehen, ob bei ihr Licht brennt. Das war nicht der Fall. Während meine Frau unsere Wohnungstür aufschloss, horchte ich an ihrer Tür, ob alles ruhig ist, was auch der Fall war. Als wir ca. 15 Minuten in unserer Wohnung waren, hörte ich plötzlich nebenan Geräusche und ging sofort in die Nebenwohnung. Bereits im Treppenhaus hörte ich laute Hilferufe. Nachdem ich die Tür geöffnet hatte, fand ich sie in der hintersten Ecke des hell erleuchteten Bades auf einer Badematte liegend vor, die sie sonst nie verwendet. Sie lag auf dem Rücken und behauptete, seit 22 Uhr hilflos am Boden zu liegen. Sie habe unentwegt um Hilfe gerufen und auf den Boden geklopft. Niemand habe sie gehört. Auch in der Küche brannte Licht, wenn auch nur das Licht des geöffneten Trockners. Der Notrufknopf hing am Rollator, der vor der Wohnzimmertür - direkt neben der Küche - stand.

 

Das Bett war benutzt und noch warm. Kein Mensch hat im Haus etwas bemerkt und auch wir bemerkten nichts, als wir nach Hause kamen.

 

Schnell hatte ich sie vom Boden aufgehoben und ins Bett geschafft, begleitet von einem lauten Lamento, das im ganzen Haus zu hören war. Sie verwickelte sich laufend in Widersprüche, so dass sich der Fall folgendermaßen darstellte:

Als wir nach Hause kamen, rechnete sie damit, dass ich noch einmal nach ihr sehen würde. Nachdem 15 Minuten vergangen waren, ohne dass etwas passierte, arrangierte sie alles so, wie ich es später vorfand und erregte mit lautem Lärm Aufmerksamkeit. Die laut geführten Auseinandersetzungen sollten dazu dienen, dass alle Leute im Haus wissen, dass man sie allein gelassen habe. Am nächsten Tag sprach sie unverblümt von drei Stunden, die sie auf dem kalten Boden gelegen habe. Das wiederum diente dem Zweck, den Nachbarn ein schlechtes Gewissen einzureden, weil man sie immer weniger besucht. Die Nachbarn wissen, warum sie immer seltener  kommen!

 

Die Konsequenz aus diesem Fall war, dass ich über das Rote Kreuz eine Notrufverbindung einrichten ließ und dort Schlüssel hinterlegte. Es ist so üblich, dass zuerst ein naher Verwandter - in dem Fall ich - telefonisch von der Notrufzentrale verständigt wird, damit eine schnelle Hilfe erfolgen kann. Ist die Ansprechperson nicht präsent, so setzt sich ein Fahrzeug in Bewegung, das innerhalb von 10 Minuten vor Ort ist.

 

Morgens Notfall, mittags Friseuse

 

Der Notruf war gerade mal eine Woche installiert, da wurde er auch benutzt. An einem Tag, an dem wir uns abgemeldet hatten, um einige Stunden im Garten zu verbringen, der 11 Kilometer entfernt liegt, inszenierte sie einen Notfall. Ich kann deshalb von einer Inszenierung sprechen, weil alle Informationen darauf hinaus laufen und der Notdienst bis zum Eintreffen der Hilfe online mithörte.

 

Sie öffnete demnach die Wohnungstür, sicherte die Tür mit einer Kleiderbürste, damit die nicht zufällt und legte sich auf den Boden des Flurs. Nachdem sie den Notruf ausgelöst hatte und Verbindung bestand, untersagte sie dem Roten Kreuz, mich zu verständigen, weil ich ihr dann arg zusetzen würde. Sie nannte die Telefonnummer einer 85-jährigen Nachbarin, die nach ihr sehen solle.

 

Inzwischen wurden einige Nachbarn auf den "Notfall" aufmerksam und wollten sie vom Boden aufheben. Sie wehrte sich heftig und wollte nur von den Sanitätern aufgehoben werden. Als diese eintrafen, klagte sie plötzlich über Schmerzen und zeigte einige blaue Flecken an den Beinen, die angeblich vom Sturz herrührten. Die Sanitäter, die wegen der verworrenen Situation, die sie über die Telefonleitung mitverfolgen konnten, mit einem großen Rettungswagen gekommen waren, wollten sie ins Krankenhaus fahren. Sie lehnte das ab und unterschrieb sogar ein Protokoll, in dem vermerkt war, dass sie das verweigerte.

 

Die Aufmerksamkeit des halben Hauses war ihr sicher, nur wir wussten von der Sache rein gar nichts, bis wir nach Hause kamen. Von Nachbarn wurden wir haarklein unterrichtet, wie die Sache abgelaufen sei und welche Ungereimtheiten aufgefallen waren. Ihr eigentliches Ziel hatte sie nicht erreicht - uns aber dafür ins Unrecht gesetzt. Nach einer kurzen heftigen Aussprache war für mich die Sache erledigt. Der Kamm schwoll mir allerdings, als gegen 15 Uhr die Hausfriseuse kam und ihr eine neue Frisur verpasste. Da platzte mir aber doch der Kragen!

Morgens Notfall und mittags Friseuse!

 

 

 

Der harte Schnitt

 

Nach ihrem Krankenhausaufenthalt galt es, eine Linie für die Sommerzeit zu finden. Unsere Vorstellung war, dass wir meine Mutter bei schönem Wetter mit in den Garten nehmen und dort versorgen. Geplant war, dass ich vorab mit dem Fahrrad oder mit dem Auto hinfahre und meine Frau mit dem Zweitwagen und meiner Mutter nachkommt. So wären wir unabhängig gewesen und hätten auch zu passender Zeit den Heimweg antreten können ohne dass die Gartenarbeit darunter leidet. Das Handicap bestand nämlich darin, dass sie mittags eine Mahlzeit erwartete. Diese zuhause einzunehmen, würde die Tage so zerschneiden, dass wir nur wenige Stunden hätten im Garten sein können.

 

Wir nahmen sie deshalb erst einmal nachmittags mit in den Garten, damit wir sie eingewöhnen konnten. Dieser Versuch endete ernüchternd, denn sie wollte nur im engen Rollstuhl sitzen, klagte ständig über etwas anderes und vermisste Unterhaltung. Unverblümt ließ sie uns wissen, dass sie zukünftig nicht mehr mit in den Garten gehen werde. Wir sollten zuhause eine Betreuung organisieren, wenn wir in den Garten gehen.

 

So bedürftig war sie nun auch wieder nicht. Ihr passte in Wirklichkeit die Sauberkeit im Garten nicht, das Geschirr, das wir mit Brunnenwasser spülten, die Sitzkissen, auf denen auch andere Leute schon gesessen hatten und vieles mehr. Damit war klar, dass eine andere Lösung her musste.

Vorerst beließen wir es aber bei den drei Mahlzeiten an unserem Tisch, weil das Wetter noch nicht so stabil war. Infolge ihrer nicht auskurierten Beschwerden stieg ihre Unzufriedenheit, die sie an mir ausließ. Auch meine Frau bekam regelmäßig verbale Seitenhiebe ab. Wir hatten jedoch die Vereinbarung geschlossen, dass sie als Schwiegertochter aus der Schusslinie gehalten wird und ich die Sträuße mit meiner Mutter ausfechte.

 

Für ihre Attacken wählte sie immer die Mahlzeiten aus, so dass uns der Bissen im Hals stecken blieb. Wir verließen sogar mehrmals den Tisch und ließen sie alleine essen. Mehrmals forderte ich sie auf, während der Tischzeiten Ruhe zu halten - es nutzte nichts.

 

Anfang Juni 2008 eskalierte die Streitsucht, so dass ich sie während eines Abendessens darauf aufmerksam machte, dass sie ab dem folgenden Tag in ihrer eigenen Wohnung essen würde. Auch würde ich für mittags "Essen auf Rädern" bestellen, wie es viele Senioren bekommen. Daraufhin forderte sie die 150 € zurück, die sie uns monatlich für die Verpflegung gab. Exakt gerechnet waren das je Mahlzeit 1,80 €. Nun musste sie nur für das Mittagsessen 5,40 € bezahlen und eine deutlich schlechtere Qualität in kauf nehmen.

 

Schon am nächsten Morgen stand sie vor unserer Tür und verlangte lauthals, eingelassen zu werden, weil die Fußpflege käme. Wir ließen sie bisher in unseren Räumen behandeln, sahen das aber jetzt nicht mehr ein. Prompt meinte sie, wenn ihre Füße in ihrer Wohnung gepflegt würden, hätte sie ja den ganzen Dreck.

 

So war das also!

 

Wir blieben bei unserer Linie und beschränkten die persönlichen Kontakte auf wenige Gelegenheiten. Sie dachte gar nicht daran, sich zu ändern. Nun suchte sie verstärkt den Kontakt zu neuen Personen.

 

 

 

Rollenspiel "Probesterben mit Wiederauferstehung"

 

Ein kleiner Schauspieler steckt in jedem von uns - so auch in meiner Mutter. Es sind oft keine großen Rollen, die unsere Aufmerksam erregen, vielmehr groteske Komödien, die entweder zum Lachen reizen oder Kopfschütteln verursachen. Sie ist darin ein wahrer Meister. Ihre Inszenierungen sind ausgefeilt und Zeitgenossen, die das Spiel nicht kennen, fallen reihenweise darauf herein. Dabei bedarf es einer guten Vorbereitung und eines intensiven Einlebens in die Rolle, damit sie zumindest ihren eigenen Ansprüchen genügt.

 

Nun hat sie ja nicht allzu viel im Leben erlebt, was das Spielen ganz großer Rollen ermöglichen würde, doch eine Mindesterfahrung aus der Stummfilmzeit, des Kinos und der Fernsehunterhaltung lässt die eine oder andere Parodie zu. So auch in der letzten Nacht, als sie sich selbst die Gretchenfrage stellte und mich zu erschrecken versuchte.

 

Nach vielen Kontakten mit Gratulanten anlässlich des 87. Geburtstages ging sie mit allen möglichen Gedanken im Kopf zu Bett. Vom Stress des Tages und der vielen Sitzerei stellten sich leichte Schmerzen im rechten Oberschenkel ein, die Grund genug waren, kurz vor Mitternacht die Notklingel zu bedienen, die sie mit der Nachbarwohnung verbindet. Ein Kühlkissen musste her, das die Schmerzen lindern sollte. Danach wurde die Nachruhe von allen Beteiligten fortgesetzt.

 

So gegen Halbdrei schrillte erneut die Notklingel. Ich streifte sich den Bademantel über und eilte zum Einsatzort. Im Dämmerlicht der Nachttischlampe - schaurige Schatten an die Wand werfend - blickte ich in einen offen stehenden Mund, der fast unverständlich formulierte: "Es geht zuende mit mir - ich kann mich nicht mehr bewegen, bleib bei mir, wenn es jetzt mit mir zuende geht...". Der Atem rasselte. Kein Wunder, wenn man auf dem Rücken liegend mit offenem Mund austrocknet. Ich schlug das Deckbett zurück und sah nach, was die Ursache der Schmerzen und der Steifheit sein könnte. Das Bein schmerzte von der Fußspitze bis in die Hüfte. Von der Kälte des Kühlkissens hatte sich wahrscheinlich der Ischiasnerv entzündet.

Nun hilft nur Wärme - also wieder zudecken.

 

Einen Notarzt benötigte sie angeblich nicht, bat aber darum, dass ich die Nachbarin X und die Bekannte Y anrufen solle, weil sie diese noch einmal sehen wolle. Mit brechenden Augen wie zu Clara Zylinders bester Stummfilmzeit kommen die letzten Wünsche über die Lippen. Ich rieche den hypochondrischen Braten und frage überspitzt, ob ich denn auch den Pfarrer verständigen solle, wie sich das für eine so gläubige Frau ziemen würde. Das lehnte Weißköpfchen ab, denn mit so etwas spaßt man nun doch nicht. Sie meinte: "Wenn ich doch nicht sterbe, wie stehe ich denn da da!?"

 

Wenn man das nahe Ende vor sich sieht, muss man noch mal Wasser lassen. Wie von magischer Kraft bewegt, bewegt sie sich nun doch, denn die Blase drückt. Beinchen aus dem Bett, von helfender Hand auf die Beine gestellt, herumgedreht und in den Rollstuhl gesetzt. So geht es ins Bad. Wasserlassen funktioniert erfreulicherweise dann auch und wieder zurück ins Bett. Der Kreislauf wühlt plötzlich ganz stark am Herz - vielleicht hätte man so spät keinen Bohnenkaffee mehr trinken dürfen. Und wieder steht - auf dem Rücken liegend - der Mund offen und die Augen haben etwas vom Blick eines toten Schellfisches. Nach einigen beruhigenden Worten kehrt wieder die Nachtruhe ein. Eine Stunde vergeht, dann geht das Ganze wieder von vorn los und wiederholt sich noch zweimal bis zum frühen Morgen. Dann wird es hell - der Doktor muss unbedingt kommen und entscheiden, ob es wirklich zuende geht oder nicht.

 

Inzwischen ist auch der tägliche kommende mobile Pflegedienst da und es muss sich entscheiden, ob sie sich nach dem Waschen wieder ins Bett legt oder ob sie angekleidet wird, damit sie die Tagespflegeeinrichtung besuchen kann. Dort ist nämlich heute eine Kaffeetafel anlässlich ihres Geburtstages geplant und ich hatte schon große Mengen Kuchen geordert und bezahlt. Was ist nun wichtiger?

 

Der Hausarzt trifft ein und untersucht Weißköpfchen, ohne irgend etwas festzustellen, was zur Besorgnis Anlass gäbe. Zur Sicherheit erfolgt noch eine Blutprobe, die schnell ausgewertet werden soll, damit auch ein leichter Herzinfarkt ausgeschlossen werden kann. Banges Warten bis das Ergebnis vorliegt: absolute Fehlanzeige.

 

Dann ist ja alles in Ordnung! Nun ist der Schmuck das größte Problem. Ketten, Ringe, eine Brosche und natürlich die Ohrringe, die für die große Feier benötigt werden, müssen drapiert werden. Das hebt das Gesamtbefinden. Mit Schmuck kompensieren ja viele Frauen ihre schwindende Schönheit.

 

Bereits auf dem Weg zum Auto sind die Schmerzen fast verflogen und die letzten Schritte lassen nahezu keine Beschwerden mehr erkennen. In der Tagespflege angekommen ist der Empfang herzlich und Weißköpfchen absolut im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit.

Das Leben hat sie wieder! Und wie!

Betrüblich ist allerdings, dass es für diese kleinen und großen selbstdarstellerischen Verhaltensweisen keinen Oscar gibt. Aber - die Reise nach Amerika wäre ja auch zu beschwerlich.

 

 

 

 

 

 

 

Vom richtigen Maß

 

Ordnungsliebe tötet Triebe,

Sauberkeit wird of zum Wahn,

Routinepflege tötet Liebe,

sowas sollt´ man sich erspar´n.

 

Alles nur im richt´gen Maß,

so sollte man es halten,

so macht auch das Leben Spaß

den Jungen und den Alten.

 

Ist das jedoch nicht mehr der Fall,

das richt´ge Maß nicht mehr im Lot,

endet ´s oft mit einem Knall

und manchmal sogar mit´m Tod.

 

Wahn und Trieb gut isoliert,

am besten gleich in Ketten,

hilft, wenn man es dirigiert,

auch Menschenleben retten.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Dehydrieren kontra Harndrang

 

Meine Mutter hat ein Problem. Wenn sie viel trinkt, muss sie oft Wasser lassen. Trinkt sie wenig, leidet sie unter Krämpfen in den Beinen, Schwindelgefühlen und Harndrang, ohne jedoch Müssen zu müssen. Nun ist es ja heutzutage angeblich gut, nicht mehr so oft Müssen zu müssen, wie uns die Fernsehwerbung suggeriert. Mit den Folgen ist jedoch nicht zu spaßen.

 

So hat sie sich am Wochenende mal wieder in eigensinniger Weise in einen Zustand gebracht, der dringend nach Flüssigkeit rief. Bei Weißköpfchen ist aber nur das relevant, was sein darf. Viel Flüssigkeit trinken kommt nicht infrage. Kurz nach Mitternacht kommen alle Beschwerden auf einmal zusammen und die Notklingel nach nebenan wird betätigt, der mich aus dem ersten Schlaf reißt. Wie kann ich auch schlafen, wenn es ihr schlecht geht!? Noch recht verschlafen eile ich zum nahen Einsatzort und erfahre, was Weißköpfchen plagt. Der Blutdruck ist schnell gemessen - 75:140, Puls 73 - damit kann man Hundert Jahre alt werden. Dennoch läuft die Dauerreportage über jede noch so kleine Besonderheit des momentanen Zustands weiter.

 

Ich denke mit Grauen daran, dass der ganze Sonntag noch vor uns liegt und der Zustand des Selbstmitleids wahrscheinlich permanent so weiter geht. Zunächst versorge ich sie erst einmal mit einem Getränk. Immer wieder geht ihr Blick zum DRK-Notruf-Knopf, der für eine noch dramatischere Situation sorgen könnte. Auch wenn es bereits etwas besser geht, möchte sie nicht wieder ins Bett, denn die Nacht ist noch jung und die Möglichkeiten sind noch nicht voll ausgeschöpft.

 

Mit "Rufe doch mal die Notrufzentrale an und frage, was ich habe!" wird die nächste Stufe der nächtlichen Inszenierung gezündet. Meine berechtigten Zweifel an der Effizienz dieser Maßnahme werden mit einer Heularie quittiert, die nicht enden wollte. Also rief ich doch die Notrufnummer an. "Was denn los sei", wurde ich gefragt und ich begann die Symptome aufzuzählen. Währenddessen stand ihr Mäulchen nicht still. "Sage ihnen, dass ich Parkinson habe und einen Parkausweis, weil ich 100% behindert bin", klang die Aufforderung, der noch weitere hanebüchene Aufzählungen folgten.

 

Am anderen Ende der Leitung war Ratlosigkeit zu spüren, ehe die verschiedenen Optionen genannt wurden, die sich anbieten.

  • Ein Krankenwagen könne kommen und sie zur Untersuchung ins Krankenhaus bringen.

  • Bei Lebensgefahr könnte auch ein Notarztwagen in Marsch gesetzt werden.

  • Es könne aber auch der kassenärztliche Bereitschaftsdienst verständigt werden, damit ein Arzt eine Einschätzung vornehmen könne.

Ich entschied mich für letztere Variante.

 

Diesen orderte ich und es wurde zugesagt, dass er in einer halben Stunde vor Ort sei. Sie trank inzwischen das zweite Glas Wasser und redete während des Telefonats munter dazwischen als gälte es, die Zutaten einer Pizza festzulegen. Ich begab sich zur Hofeinfahrt, um dem Bereitschaftsarzt den Weg zu weisen. Nach einer Viertelstunde hielt ich es jedoch für angebracht, doch noch mal nach meiner Mutter zu sehen, die ich im Sessel sitzend zurück gelassen hatte. Nun lag sie auf dem Boden vor dem Wohnzimmerschrank inmitten einer Menge Kleingeld, das auf dem Boden verstreut war. Wer weiß, welche Gedanken sie wieder geritten hatten. Nachdem feststand, dass sie sich nicht verletzt hatte, hob ich sie wieder in den Sessel und sammelte das Kleingeld auf.

 

Nach einer weiteren Viertelstunde kam der Bereitschaftsarzt und Weißköpfchen lag erneut vor dem Wohnzimmerschrank. Mit herrlich böhmischem Akzent begann folgender Dialog:

 

"Gnädige Frau liegen am Boden! Was haben gemacht?"

 

"Der da hat mich alleine hier sitzen lassen, da bin ich hingefalle..."

 

"Einfach so? - Komische Sache!"

 

Nach einer kurzen Untersuchung und dem Studium des Medikamentenplans fuhr er fort:

 

"Gnädige Frau, sind Sie dehydriert und haben Sie Parkinson - ich säähe, muss ich Sie einweisen in Kraankenhaus!"

 

"Ach bitte, Herr Dokter, net ins Krankehaus, da will ich net hin!"

 

"In Wohnung bleiben - zuu gefährrlich, missen uunbedingt in Kraankenhaus!"

 

"Awwer - so schlimm isses doch garnet, ich fühl mich schon viel besser un morje krie ich Besuch..."

 

"Gnädige Frau! Sind wir hier nicht auf türrkische Basar!

Ich Arzt - ich entscheiden: Krankenhaus!"

 

"Lasse se mich doch deheim, ich leech mich auch ins Bett und bleib ganz ruhich liche..."

 

"Gnädige Frau, Sie häären nicht auf Ihre Sohn und fallen deshalb - sind unverfnienftig..."

 

"Ich bin jetzt sofort ganz vernünftich, Herr Dokter..."

 

"Wenn ich lasse Sie zuhause, gehe fort und Sie stähen auf, fallen hiiin,

jäderr sagt: Was hat Arzt getaan?"

 

"Also - auch wenn Sie mich einweise, ich geh net ins Krankehaus!"

 

"Gnädige Frau! Schreibe ich jetzt Einweisung und Transportschein. Wenn nicht mitfahren, missen selbst bäzahlen Krankentransport - am Wochenende seeehr teuer!"

 

"Es geht mir doch schon viel besser..."

 

"Guuut, gnädige Frau, stehen jetzt auf, gähen ohne Hilfe zur Tiere und wieder suriick. Wenn aalles gut, dann suhause bleiben..."

 

"Wenn ich aufsteh, dann fall ich doch sofort hin!"

 

"Deshalb gehen in Kraankenhaus!"

 

"Gut! Ich will awwer e Zweibettzimmer!"

 

"Missen mit Krankenhaus besprechen, ist nicht meine Saache..."

 

Die Grundsatzdebatte war gelaufen und eine kleine Tasche wurde gepackt. Der Arzt verabschiedete sich mit einem Augenzwinkern und er meinte: "Haben wir doch guut gemacht!?"

 

Und ob er das gut gemacht hatte! Er hatte im Sinne der Patientin und der Angehörigen entschieden. Nach einigen Tagen und einem Dutzend Infusionen Kochsalzlösung war die alte Vitalität wieder hergestellt.

Was lernen wir daraus?

Erst gesunder Menschenverstand macht den praktischen Arzt aus!

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Das Lazarett

 

Im November 2008 war bei meiner Frau die Depression sehr heftig, die aus der Pflegesituation herrührte. Das bewirkte bei ihr einen gewaltigen Schub Schuppenflechte, der sich über den ganzen Körper ausbreitete. Jeder Kontakt mit meiner Mutter erzeugte einen weiteren Schub, so dass gar nicht daran zu denken war, gemeinsame Dinge zu planen. Mitte des Monats kam dann der absolute Gau, als sich meine Frau den Fuß brach. Das Sprunggelenk war viermal gebrochen, das Fersenbein ebenfalls und das Wadenbein war herausgesprungen. Eine sofortige Operation war zwar erfolgreich, die Folgezeit jedoch enorm stressig. Nun hatte ich zwei Rollstuhlfahrer zu betreuen.

 

Vielleicht ist in diesem Zusammenhang noch eine Begebenheit recht interessant. Als diese Bruchverletzung passierte, befand sich meine Mutter nach ihrem zweiten schweren Sturz im Hanauer Martin-Luther-Stift zur Rehabilitation. Nun musste ich sowohl Krankenbesuche im Krankenhaus als auch in der Reha machen. An dem Tag, an dem der Unfall passierte, besuchte ich zuerst meine Frau, die gerade frisch operiert war und anschließend meine Mutter. Sie fragte nach ihr, weil doch heute Sonntag sei und man erwarten könne, dass auch sie zu Besuch käme. Nachdem sie ihre Schimpfkanonade abgelassen hatte, informierte ich sie über das, was passiert war. Ich glaube, das war das einzigste Mal, dass sie sich über ihre Äußerungen schämte.

 

Ihr Sorge galt allerdings nur der Frage, ob sie dadurch weniger Aufmerksam bekäme. Nach einer guten Woche konnte ich meine Frau wieder mit nach Hause nehmen. Am nächsten Tag wurde auch meine Mutter aus der Reha entlassen. Nun hatte ich beide Kranken zuhause und jede Menge Arbeit am Hals. Der Tagesablauf änderte sich natürlich erheblich.

 

Die Nacht war für mich praktisch um 6 Uhr um. Nach der Morgentoilette bereitete ich meine Mutter auf den Pflegedienst vor, der die weitere Versorgung übernahm. Dann bereitete ich das Frühstück vor und half meiner Frau ins Bad. Gott sei Dank konnte sie sich weitgehend selbst versorgen. Zwischendurch richtete ich bei meiner Mutter die Betten und machte sie reisefertig. Danach konnten wir endlich frühstücken und den Tagesablauf festlegen. Um 8 Uhr 45 fuhr ich meine Mutter in die Tagespflege. Auf die Rituale gehe ich hier nicht im Detail ein, möchte jedoch erwähnen, dass hierbei meine Laune regelmäßig auf den Nullpunkt absackte. Kurz nach 9 Uhr fuhr ich dann jeden zweiten Tag mit meiner Frau zum Arzt nach Hanau, der den Heilungsprozess überwachte. Die Zwischenzeit - meistens 1 bis 2 Stunden - lief ich in der Stadt umher und fütterte die Parkuhr. Nach ihrem kurzen Anruf holte ich sie wieder ab und wir fuhren nach Hause oder aßen unterwegs etwas. Wegen des Rollstuhls war das allerdings mit Schwierigkeiten verbunden.

 

Nachmittags standen dann Einkäufe und Hausarbeiten an, ehe ich um 17 Uhr meine Mutter aus der Tagespflege abholte. Auskleiden, Umziehen, Betten richten, Abendessen vorbereiten und Wohnzimmer vorbereiten waren anschließend meine dringlichsten Beschäftigungen, ehe ich mich wieder um meine Frau kümmern konnte. Dieser Zustand ging bis April/Mai 2009 und die Fortschritte waren nur marginal. Meine Nerven lagen blank. Ich stürzte mich während dieser Zeit in ablenkende Aktivitäten und bereitete eine Satirenlesung meiner eigenen Alterssatiren vor. Diese waren in den vielen einsamen Stunden entstanden, in denen ich all das aufarbeitete, was mich tagtäglich umgab. Ohne das wäre ich womöglich total depressiv geworden.

 

 

 

 

 

 

 

 

Hoffnung

 

Jahresende, graue Zeit,

Zeit der Toten zu gedenken.

Nun ist man dazu bereit,

Andren was zu schenken.

 

Vergänglichkeit beim Blick zurück,

trostlos scheint der Blick nach vorn.

Irgendwo zerbarst das Glück,

wich der Ohnmacht und dem Zorn.

 

Weihnachtszeit, das Fest der Liebe,

Kind sein, wie in alten Tagen,

von Knecht Ruprecht feste Hiebe,

danach ein Gedicht aufsagen.

 

Mit Nikolaus wird man belogen

als Kind und das recht lang,

Mummenschanz, dick angezogen

und in den Herzen wird es bang.

 

Dann die Krippe und der Stall,

drei Weise aus dem Morgenland,

ein heller Stern, er glänzt im All,

damit man auch den Heiland fand.

 

Das alles wird erneut lebendig,

wenn der Kaufrausch ist vorbei

und man schenkt gar eigenhändig,

dies und das und allerlei.

 

Selbst im Krieg war dafür Platz

in all den ausgebombten Stuben,

oft getrennt von seinem Schatz,

in tiefen Löchern, die sie gruben.

 

Es ist die Hoffnung, die uns treibt,

in diesen trüben Wintertagen.

Schlimm ist´s nur, wenn aus sie bleibt,

dann geht´s uns an den Kragen.

 

 

Hohe Feiertage und Festtage

 

Mit der strikten Trennung unserer Lebensbereiche kam natürlich auch das Problem, wie Feiertage und Festtage gestaltet werden. Mein ganzes Leben lang war ich davon beseelt, Streitigkeiten und Missstimmungen im engsten Lebensraum schnell wieder aufzulösen. Ich kann mich nur an sehr wenige Tage erinnern, an denen ich solchen Ärger über Nacht mit mir herum trug. Mit meinen Eltern war das jedoch noch nie so. Mein Vater konnte furchtbar stur sein und wir hatten sogar einmal drei Jahre lang keinen Kontakt, weil er sich falsch behandelt gefühlt hatte. Doch das ist längst Vergangenheit.

 

Heute leide ich unter den fortwährenden Demütigungen meiner Mutter und unter ihrem verdammten Egoismus. Sie hält sich für die wichtigste Person in ihrem Leben und jedes typisch mütterliche Gefühl ist ihr fremd. Sie ist bereit, jeden zu mögen, der sich ihr unterwirft.

 

In der letzten Zeit vergleicht sie mich immer wieder mit ihrem Vater, der ein sehr geradliniger Mensch gewesen sein muss, der sich nichts und niemandem beugte. Vielleicht sieht sie in mir ihren Vater, der sie womöglich sehr streng angepackt hatte. Vermutlich wollte er verhindern, dass der Mensch aus ihr wird, der sie heute ist.

 

Ich selbst bin Gefangener meiner Prinzipien. Meine Mutter werde ich so lange pflegen und unterstützen, wie es mir möglich ist. Das heißt jedoch nicht, dass ich mein Leben mit ihr teile. Sie soll ihr Leben leben und ich muss sehen, wie ich es für meine Frau und mich erträglich gestalten kann. So beschränke ich mich darauf, sie zu versorgen, trenne aber strikt den zwischenmenschlichen Bereich. Das ist sicherlich nicht ganz einfach und für Außenstehende nur schwer zu verstehen. Das größte Verständnis haben hier aber die Fachkräfte der Tagespflege und nahe Verwandte, die sie genau kennen.

 

Weihnachten führt mich immer wieder in einen tiefen Zwiespalt. Als Kind erlebte ich die immer wiederkehrenden Rituale natürlich anders als meine Eltern. Mein Vater war vom Weihnachtsfest immer stark berührt, was wohl mit der Kriegszeit und der Gefangenschaft zu tun hatte. In Friedenszeiten genoss er das Fest und er war auch darauf bedacht, Anderen Freude zu bereiten. Bei meiner Mutter überwog das Beschenktwerden und die Frage, welcher Nikolaus mich wohl am meisten einschüchtern und verdreschen könne. Schon als Kind kam ich mit meiner Mutter nicht zurecht, weil sie so anders war als andere Mütter. Was sie Gutes an mir tat, galt nur ihrem guten Ruf und dem, was andere Leute sehen und denken sollten. So wurde auch Weihnachten zur Farce und war nur auf Äußerlichkeiten ausgerichtet.

 

Als ich dann verheiratet war, mutierte Heiligabend zum Tauschtag und zur familiären Feiervergewaltigung. Ich kann mich an kein Weihnachtsfest in dieser Zeit erinnern, an dem ich nicht auf der Straße gewesen bin, um von Feierlichkeit zu Feierlichkeit zu fahren. Auch die Weihnachtsfeiertage waren immer von gemeinsamen Essen bestimmt, die abgespulten Ritualen glichen. Dennoch war es mir in dieser Zeit immer noch möglich, zu einem inneren Frieden zu kommen.

 

Seitdem mein Vater tot ist, bin ich zu diesem inneren Frieden nicht mehr fähig. Allgegenwärtig ist die tägliche Drangsal, der ich ausgesetzt bin. Schon beim bloßen Anblick meiner Mutter werde ich innerlich aggressiv. Und ich muss an die Schwere der Erkrankung meiner Frau denken, die eindeutig psychischen Ursprungs ist. In dieser Situation an ein harmonisches Weihnachtsfest und an Sylvester zu denken, ist nahezu unmöglich. So ließ ich zu diesen Festen zum Jahrswechsel 2008 und auch 2009 meine Mutter in ihren eigenen Räumen. Es fehlte ihr dabei an nichts, was die Festtage ausmacht, nur auf unsere Gesellschaft musste sie verzichten.

 

In vielen Familien gilt das als Tabu-Bruch, denn im Alter bindet man normalerweise seine Elternteile in die Feste ein. Wir betrachten unser Verhalten eher als verhängte Quarantäne, um weitere gesundheitliche und psychische Belastung fern zu halten. Die Folgen sind Wutausbrüche und Verunglimpfungen im gesamten Umfeld, die erneut rechtfertigen, dass unser Verhalten richtig ist. Wenn man über das ganze Jahr nur gepeinigt und mit übler Nachrede konfrontiert wird, fällt es schwer, urchristlich zu reagieren. Auch toleriere ich das psychosadistische Verhalten meiner Mutter und ihre Egomanie nicht mehr. Es fiele mir leichter, wenn sich bereits Demenz eingestellt hätte. Davon ist sie jedoch weit entfernt. Was sie macht, macht sie bewusst.

 

So wird sie bis an ihr Lebensende an den hohen kirchlichen Feiertagen auch an ihren und unseren Geburtstagen keine gemeinsamen Feiern mehr erleben. Das kleinste Entgegenkommen würde nur zu neuen Unverschämtheiten führen. Geschenke nehmen wir ebenfalls nicht an, denn sie würde sie nur aufrechnen und dafür Gegenleistungen verlangen. Ein gutes Beispiel ist der neue Fernseher, den wir anschaffen mussten, als der alte seinen Geist aufgab. Sie wollte uns diesen unbedingt zu Weihnachten schenken. Dann könne sie auch wieder bei uns fern sehen, meinte sie. Natürlich lehnte ich das aus bekannten Gründen ab, worauf sie meinte: "Eigentlich brauche ich ihn dir gar nicht zu schenken, denn du wirst ihn ja sowieso von meinem Geld gekauft haben...!"

 

Das bestärkt mich immer wieder darin, dass ich die Pflege und den menschlichen Umgang strikt trennen muss. Es hat auch keinen Sinn, mit ihr darüber zu reden, denn sie versteht gar nicht, was ich meine. Ihr Charakter ist zu ausgeprägt, um das Böse darin zu erkennen.

 

 

 

 

 

 

 

 

Egomanische Reflexion

 

Ich fühle mich ja so überaus wichtig.

Auch bin ich im Kopf noch ganz richtig.

Kenne Menschen, die mich schätzen

und werde diese auch nicht verletzen.

 

Zwar reicht zum Zählen eine Hand,

sie sind auch nicht mit mir verwandt,

doch sind sie scharf auf meine Gaben,

weil sie diese scheinbar nötig haben.

 

So erhalt´ ich meine kleine Welt

mit Süßem und mit kleinem Geld.

Fühle mich wohl in ihrer Nähe,

weil ich in treue Augen sehe.

 

Diener und Knechte sind mir recht,

weil ich mich nicht mehr ändern möcht´.

Denn ich fühle mich ja so überaus wichtig

und bin immer noch im Kopf ganz richtig.

 

 

Der schöne Schein

 

Stimme, Gestik und Mimik sind wichtige Instrumente, um beim Gegenüber Eindrücke zu erzeugen. Diese können ganz unbewusst und menschlich echt aber auch gezielt und in bewusster Absicht zum Einsatz kommen. Letzteres ist eher mit Täuschungsversuchen verbunden, weshalb wir sehr auf die Stimmigkeit der Signale achten müssen, um nicht hinters Licht geführt zu werden. Man findet diese heimtückischen Varianten meist im Zusammenhang mit Hypochondrie oder verdrängter Schuld aber auch manchmal nur einfach so aus einer Laune heraus, wenn sich der oder die Agierende den Gesprächspartnern überlegen fühlen. Ansonsten wäre ja auch die Gefahr viel zu groß, enttarnt zu werden. Überschätzt man sich selbst diesbezüglich, dann sind die Folgen mitunter gravierend.

 

Meine Mutter ist am angenehmsten, wenn Ehrlichkeit aus ihr spricht. Dazu gibt es viele Gelegenheiten, bei denen es um rein gar nichts geht und wo sie es sich auch leisten kann. Dann wird sie freudig angenommen und kann den Kontakt genießen. Den Kontakt genießen zu wollen, ist bereits die entscheidende Weichenstellung, die allerdings den nächsten Angehörigen selten zuteil wird.

 

Im trauten Familienkreis kann man sich ungeniert gehen lassen, denn da kennt jeder den IST- Zustand und man kann niemand mehr ein X für ein U vormachen. Hier werden nur Machtpositionen ausgelotet, beleidigt, gedemütigt und denunziert, was das Zeug hält. Warum auch liebenswert sein, wenn man als Elternteil einen Anspruch auf grenzenloses Verständnis zu haben glaubt?!

 

Dennoch wird von meiner Mutter je nach Situation, in die sie sich hinein- manövrierte, das komplette Register an Stimmlagen, Gestik und Mimik aufgeboten, um entweder

  • Schonung nach dem Austeilen von Unverschämtheiten,

  • Mitleid nach harter Konfrontation mit der Realität

  • oder eine bessere Position durch Zelebrieren eines Handicaps zu erreichen.

Da wird auch schon mal das Köpfchen hängen lassen und dabei nachlässig und unverständlich gesprochen, als sei eine Lähmung des Gesichts eingetreten, dabei hilflos und geistesabwesend dreingeschaut, währenddem die Ohren gespitzt werden, was im Raum gesprochen wird, um plötzlich putzmunter am Gespräch teilzunehmen und sich zu streiten, was das Zeug hält.

 

Der Knaller ist jedoch die Modulation der Stimme, wenn ein bestimmter zur Absicht passender Zustand simuliert wird. Die Stimme schwingt irgendwo zwischen Vibrato und Tremolo , während scheinbar das Auge bricht. Besser kann man das nahe Ende nicht rüberbringen, das in Wirklichkeit meilenweit entfernt ist. Man braucht dann nur ein Reizthema anzuschlagen und die Stimme wird glasklar und fest und die Äuglein blitzen. Kurz darauf genügt ein spöttisches Lachen, damit Weißköpfchen sich ertappt fühlt und die Stimmung schwingt blitzschnell in ein Lamento mit Heularie um, weil die Sache so peinlich war. Und wieder ist ein Stück gegenseitige Achtung zum Teufel gegangen.

 

Wenn man mal das ganze Täuschungs-Repertoire kennt, fällt es immer schwerer, auch echte Momente auszufiltern. Dann kann es wirklich passieren, dass man eine Situation falsch einschätzt. Ein viel zu hoher Preis für das miese Spiel! Im Kontakt mit Nichtfamilienangehörigen breitet meine Mutter ihre ganz eigene Welt und Sicht der Dinge aus, in der die Bösen böser sind, als andere Böse, auch wenn sie die ganze Last tragen - nur nicht jede Marotte mitmachen. Weißköpfchen lässt sich dann bedauern und packt immer noch etwas auf ihren Wohltäterhügel drauf, um in Sphären vorzudringen, in denen angeblich Heiligenscheine verteilt werden.

 

Der Pfarrer muss es unbedingt wissen, wie herzensgut man und wie schwer dennoch das eigene Schicksal ist. Und wieder wird das Ausdrucksregister nach allen Regeln der Kunst gezogen, damit auch alles richtig ankommt. Dafür muss es eigentlich Extrapunkte fürs Himmelreich geben.

 

Doch Geistliche sind Menschen mit klarem Verstand und großer Menschenkenntnis. Sie durchschauen das Spiel und reagieren darauf so angemessen, wie sie es vertreten können.

 

So steckt in jedem Mensch ein mehr oder weniger großes Schauspieltalent, das eigentlich fernsehreif wäre, wenn man den Menschen diese Realsatiren zumuten könnte.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Narkose

 

Sanfter Flug durch Raum und Zeit,

Kanüle verbindet mit dem Leben.

Das Hirn von Schmerzen nun befreit,

denn die Vollnarkose wirkt soeben.

 

Plötzlich ist man wieder Kind,

mit achtundachtzig Jahren.

Trifft die Eltern gar geschwind

und will den Traum bewahren.

 

Federleicht sind alle Glieder,

eitel Wonne, Sonnenschein.

Da ist die Kindheit wieder,

genauso so müsst´ es ewig sein.

 

Plötzlich aber stoppt der Tropf,

des Mediziners Arbeit ist getan.

Die Gegenwart steigt in den Kopf

und das fühlt sich ganz seltsam an.

 

Die Gegenwart scheint unbequem,

man will nicht vor, eher zurück.

Das Heute wirkt nicht angenehm,

entschwunden plötzlich alles Glück.

 

Wer dabei nun auf halbem Wege

in der Erinnerung stecken bleibt,

dem fehlt sogar bei guter Pflege

die Zukunft und Vergangenheit.

 

Gut, wenn man es nochmals schafft,

des Geistes Lücken gut zu schließen.

Das bringt zurück Elan und Kraft,

man kann das Leben gar genießen.

 

Wichtig ist der Sachverstand,

der Ärzte Kunst und die Narkose.

Man ist fürwahr in Gottes Hand,

sonst geht die Sache in die Hose.

 

 

 

 

Narkose mit Folgen

 

Im März 2010 war meine Mutter in einer Verfassung, die meiner Meinung nach relativ zufriedenstellend war. Mit 88 Jahren muss man Einschränkungen hinnehmen und seine Erwartungen den Möglichkeiten anpassen, damit sich Zufriedenheit einstellt. Derartige Gedankengänge sind meiner Mutter aber fremd. Insgeheim kalkuliert sie auch das ein, was andere hilfreiche Menschen und ich ihr ermöglichen. Das, was sie selbst nicht kann, wird deshalb eingefordert. Bleibt die Hilfe in genau dem Moment aus, in dem sie erwünscht ist, regiert der Trotz nach dem Motto "Dann mache ich es halt selbst". Die darauf folgenden Aktionen enden in der Regel mit einem Sturz oder einem Sachschaden.

 

So war es auch im März als sie völlig eigensinnig zugange war und in der Küche stürzte. Dabei riss sie sogar noch den Rollstuhl mit um, der sie dabei verletzte. Ein riesiger Bluterguss stellte sich ein und sie musste in die Klinik. Da die innere Blutung nicht zum Stillstand kam, wurde am nächsten Morgen operiert. Die Narkose war mit Risiken behaftet, jedoch absolut notwendig. Mit den Nachwirkungen der Narkose kämpfte sie anschließend vier Tage lang. In dieser Zeit musste sie mit einem Katheder leben, hing am Tropf und wurde zwischendurch immer wieder mit Sauerstoff versorgt. Dabei stellte sich eine Lungenentzündung ein und es bildete sich Wasser in der Lunge. Alles zusammen war eine bedenkliche Situation, in der sie die Nahrung verweigerte. Sie war in einem Zustand, in dem sie nicht Herr ihrer Sinne und ihrer physischen Kräfte war. Zudem existierte immer noch keine Patientenverfügung. Die Ärzte waren also ausschließlich auf ihren ärztlichen Auftrag fixiert und der hieß: Um jeden Preis das Leben retten. Sie war zum Spielball ärztlicher Kunst geworden.

 

Diesen Zustand meisterte sie unter größten Schwierigkeiten und sie wurde zur Rehabilitation in eine dem Krankenhaus angeschlossene Geriatrie überwiesen. Dort setzte sich die partielle Verwirrtheit als Nachwirkung der Narkose fort. Als sie erneut die Nahrung verweigerte, griff die Ärztin zu einem probaten Mittel. Sie setzte meine Mutter davon in Kenntnis, dass sie vom Amtsgericht die Genehmigung zur künstlichen Ernährung einholen wolle, weil ja keine Patientenverfügung vorliege und sie momentan nicht im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte sei. Damit würde ihr Zustand aktenkundig und das Vormundschaftsgericht könnte womöglich reagieren. Das könnte bedeuten, dass vom Gericht ein Pfleger eingesetzt wird. Alle Entscheidungen lägen dann nicht mehr in ihrer Hand.

 

Das Mittel wirkte schlagartig und sie nahm wieder Nahrung auf. Während der Besserung beschäftigte sie pausenlos das, was ihr passiert war und sie wollte auf einmal so schnell wie möglich eine Patientenverfügung und eine Betreuungsvollmacht ausstellen. Gleichzeitig besann sie sich auf all die Vorteile dieser beiden Verfügungen und auf die Nutzung ihres Verstandes, solange er noch intakt war. Ich bereitete umgehend das Erforderliche vor und lud zwei Personen ihres Vertrauens ein, die mit ihr die Festlegungen erarbeiteten und zum Abschluss brachten. Das ging überraschend einfach und sie schien sichtlich erleichtert, dass fortan nur ihr Wille bei der Umsetzung ihrer Probleme zählt. Für alle Beteiligten war das ein wichtiger Tag.

 

Der Moment hätte auch zum Wendepunkt ihres Verhaltens werden können. Die Narkose war zwar überwunden, es blieb jedoch eine Trübung des Kurzzeitgedächtnisses und des Zeitgefühls. Groteske Situationen waren die Folge. Zwischen Tag und Nacht fehlte die Orientierung, was dazu führte, dass sie mitten in der Nacht bereits mit der Körperpflege des Morgens begann oder nach Medikamenten verlangte, die zu völlig anderen Zeiten eingenommen werden mussten.

 

Fortschritte gab es im Bereich der Pflegehilfsmittel. Hier kam endlich der Nachtstuhl zum  Einsatz. Da nach der Operation der rechte Fuß schief stand, wurde eine Orthese angepasst , die auch tatsächlich wirkungsvoll war. Allerdings waren hierzu kleine Stiefel nötig, die beschafft werden mussten.

 

 

Erschreckend war der Preis, den das beauftragte Sanitätshaus berechnete. Das Teil kostete 748,00 Euro. Recherchen im Internet und bei Herstellern ergab, dass diese Orthesen für 294,00 Euro bezogen und zu freien Preisen weiterberechnet werden können. Sicherlich war die Lieferung mit persönlicher Beratung und kleinen Anpassungen verbunden. Das rechtfertigt jedoch nicht diese Handelsspanne, die voll und ganz von der Krankenkasse abgefangen werden muss. Ein Skandal, wie ich meine.

 

Als nächste Aktion steht der Austausch der Ehebetten durch ein Krankenbett an. Das ist mit aufreibenden Diskussionen verbunden, weil die 20 Jahre alten Matratzen "noch so gut in Schuss seien" und der gesamte "Guck" des Schlafzimmers darunter leide. Der Pflegezustand mach es aber erforderlich. Dass das zum Schutz der Pflegenden geschieht und zusätzlich eine Erleichterung für den Kranken bedeutet, sieht meine Mutter nicht ein. Hier muss man sich aber als pflegender Angehöriger durchsetzen.

 

Alle genannten Veränderungen sind nur auf die Narkose und die damit einhergegangenen Bewusstseinstrübungen zurück zu führen. So gesehen ist ein Fortschritt zu erkennen, wenn auch in eine Richtung, die bei meiner Mutter keine Freude aufkommen lässt.

 

 

 

Verfügungen und Vollmachten

 

Inzwischen häufen sich die Momente, in denen meine Mutter für einen kurzen Augenblick verwirrt zu sein scheint. Es wird wohl mit der Narkose zu tun haben, die ihr so zu schaffen machte. Es ist abzusehen, dass irgendwann eine Situation eintreten wird, in der ich für sie verantwortlich handeln muss und auch Ärzte eine verbindliche Anweisung benötigen, wie sie sich ihre Behandlung in Ausnahmesituationen wünscht. Die Lösung hieß schon seit langer Zeit "Patientenverfügung" und "Betreuungsvollmacht". Hierfür halten seriöse Organisationen im Internet Mustervollmachten vor, die alle Belange abdecken und die man nur den Wünschen anpassen muss.

 

Beide Dokumente bereitete ich nach eingehenden Gesprächen mit meiner Mutter vor und zog an einem Sonntagnachmittag einen langjährigen Vertrauten meiner Eltern und den ehrenamtlichen Stadtrat hinzu, um den gesamten Text Schritt für Schritt noch einmal mit ihr durchzugehen. Mit geschickten Kontrollfragen ermittelten die beiden Anwesenden die Wünsche meiner Mutter, die zuvor bereits niedergeschrieben worden waren. Damit war zweifelsfrei klar, was sie anschließend unterschrieb und dass sie das im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte tat. Fortan konnte ich bei Eintreten eines Zustands, in dem sie nicht mehr handlungsfähig war, alle Regelungen treffen, die ihrem schriftlich fixierten Wunsch entsprachen. 

 

Nach dieser Festlegung hatte ich den Eindruck, dass es meiner Mutter leichter war und sie sich darauf einstellte, dass die Verantwortung nun auch offiziell auf mich übergegangen war. Für mich bedeutete dieser Tag die Wende und das Ende des drei Jahre dauernden Kampfes und unsinnigen  Kräftemessens. 

 

 

 

Der tägliche Trott

 

Mitte August 2010 hatte sich meine Mutter wieder einigermaßen stabilisiert und ihr Tagesablauf verlief geregelt und ohne besondere Schwierigkeiten. Wochentags besuchte sie die Tagespflege, in der es ihr sehr gut gefiel. Man ging dort sehr gut auf ihre Bedürfnisse ein und duldete bis zu einem gewissen Grad ihre egomanischen Verhaltensweisen, soweit sie den Betrieb nicht allzu sehr störten. Morgens wurde sie mit einem behindertengerechten Kleinbus abgeholt, der allerdings je nach zu transportierendem Personenkreis entsprechend pünktlich beziehungsweise unpünktlich erschien. Die dabei entstehenden Wartezeiten wurden sehr oft zur Qual, weil ihr lieber gewesen wäre, wenn ich sie wie in früheren Zeiten mit dem eigenen PKW transportiert hätte. Die allmorgendlichen unerfreulichen Dispute früherer Zeiten, wegen denen ich jetzt den Bustransfer vorzog, entbrannten nun während der Wartezeiten auf den Bus. Das Hauptärgernis war für sie, dass sie mit den anderen Tagespflegegästen gleich behandelt wurde. 

 

Je nach Behinderungsgrad der zu transportierenden Seniorinnen und Senioren hatte der Bus entsprechende Wartezeiten an den jeweiligen Abholstationen. Das vertrug sich schlecht mit der leichten Inkontinenz, die sich inzwischen bei meiner Mutter eingestellt hatte. Mit dem Gefühl der permanenten Unsauberkeit konnte sie nur schwer umgehen. Das gleiche Spiel wiederholte sich am späten Nachmittag, wenn sie wieder zurück gebracht wurde. Hierbei ergab sich oft eine um 45 Minuten variable Ankunftszeit.

 

Im Laufe der Zeit hatte es sich so eingespielt, dass ich sie unmittelbar nach ihrer Ankunft in ihrer Wohnung komplett entkleidete und nach der Verrichtung der dringenden körperlichen Bedürfnisse für die Nacht fertig machte. Mit Windeln, Nachthemd und Morgenmantel versehen nahm sie das Abendbrot ein, nachdem ich es vorbereitet hatte. Hierzu gehörten neben den Medikamenten und Getränken ein belegtes Brot und ein großer Obstteller mit geschälten Früchten der Saison. 

 

Hierbei ließ ich sie weitestgehend allein, denn meine Nerven hielten die immer wiederkehrenden Rituale nicht aus. Anstelle mit Ruhe zu essen, wurden ständig andere Ideen umgesetzt. So zerlegte sie täglich fast eine halbe Küchenrolle in Einzelblätter, die sie zweimal faltete und auf einen Stoß setzte, der anschließend auf verschiedene Schubladen verteilt wurde. Mit diesen Papierblättern trocknete sie Geschirr ab, das sie gar nicht spülen sollte und wischte verschüttete Getränke auf. Der Löwenanteil verschwand jedoch in der Windel. Sie fühlte sich nur einigermaßen sauber verpackt, wenn sich in der Windelhose eine zusätzliche dicke Einlage und mindestens ein gefaltetes Papier der Küchenrolle befand. Letzteres wurde zirka 10 bis 15 mal täglich erneuert.

 

Über der Papierfalterei vergaß sie immer wieder das Essen und das noch notwendigere Trinken, um nicht zu dehydrieren. Wenn sie ihre gefalteten Papiere in der ganzen Wohnung verteilte, fiel ihr an jedem Ort, an dem sie sich gerade mit ihrem Rollstuhl befand, etwas anderes ein, das sie auch sofort in Angriff nahm. Dabei stieß sie ständig an ihre körperlichen Grenzen, so dass sie Hilfe benötigte. Hierzu rief sie per Telefon ihre ebenfalls hochbetagte Freundin aus dem Erdegeschoss an, die sie dann heftigst beschäftigte. Gegen 20 Uhr war der Spuk vorbei und sie ging zu Bett, nachdem sie im Bad ihre Pflegerituale abgespult hatte. 

 

Mit ihrem Krankenbett und dem Rollstuhl kam sie inzwischen gut zurecht, so dass sie nachts alleine zur Toilette gehen beziehungsweise fahren konnte. Den Nachtstuhl lehnte sie nach anfänglicher Nutzung ab.

Das Morgenritual bestand aus dem pünktlichen Wecken und der Einnahme der Tabletten. Nachdem sie im Bad angekommen war, überließ ich sie ihren Verrichtungen, die sie vor Eintreffen des mobilen Pflegedienstes stets erledigt haben wollte. Dieser wusch sie und kleidete sie an, sodass ich nur noch die Orthese mitsamt den Schuhen anzulegen brauchte. Es versteht sich von selbst, dass der Pflegedienst das Bad in ungeordnetem Zustand verließ und allmorgendlich für mich nach dem Bustransfer die Hausarbeit in der Wohnung meiner Mutter begann. Der alltägliche Trott führte zunehmend dazu, dass ich bis zu einem gewissen Grad abstumpfte. Es war wie in einer Tretmühle, der man nicht entrinnen kann. Hinzu kamen das wöchentliche Medikamentendosieren und das Auffrischen der Medikamentenbestände mit den erforderlichen Beschaffungsgängen.

 

An den Wochenenden versorgte ich meine Mutter komplett. Hier war nicht daran zu denken, dass meine Frau und ich das Haus verlassen. So verbrachten wir die Wochenenden auch im Sommer bei schönstem Wetter zuhause, weil meine Mutter versorgt werden musste. An den Sonntagen nahm sie den Besuchsdienst der Bürgerhilfe in Anspruch, der sie für zwei Stunden unterhielt. Während dieser Zeit konnten wir für kurze Zeit das Haus verlassen. Nachdem sich alles so eingespielt hatte, nahmen wir es hin, wie es kam, auch wenn uns nahe Verwandte und gute Bekannte immer wieder mit gutgemeinten Ratschlägen überhäuften, um uns von der Last zu befreien.

 

Erschwerend war die Schuppenflechte meiner Frau, deren Körper nahezu komplett mit Schuppenflechte bedeckt war. Ihr heftiger Schub resultierte aus der gewaltigen nervlichen Belastung, die sie wegen der egomanischen Verhaltensweisen meiner Mutter erdulden musste. Nach einem Klinikaufenthalt und einer Kur auf der Insel Borkum war sie teilweise wieder hergestellt, leidet inzwischen aber an arthritischem Rheuma in den Gelenken, wo sich nun die Schuppenflechte absetzt. Den kausalen Zusammenhang mit der nervigen Pflegesituation akzeptiert meine Mutter allerdings nicht. Ich selbst leide sehr unter Schuldgefühlen, weil ich meiner Frau dieses Drama zumute.

 

So geht die Zeit ins Land, in der man eigentlich sein Leben genießen könnte. Im Spagat zwischen Pflichterfüllung und Minimallebensfreude zerrinnt sie wie im Stundenglas.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Das Kartenhaus

 

Dünn steh´n die Wände im Raum,

Fensterhöhlen erschreckend leer,

kein Leben und kein Lebenstraum

regt sich darin fortan mehr.

Fragil war das Gebilde

seit vielen Jahren schon,

das sich nie mit Freude füllte,

für den Mann und für den Sohn.

 

Nun wackeln kräftig alle Wände,

sie wartet auf den letzten Stoß,

der dieses Drama bringt zuende.

Wann nur kommt das Ende bloß?

Der Wille will mit aller Macht

dass alles ist nun endlich aus.

Aus leeren Fensterhöhlen aber lacht

das gnadenlos fragile Kartenhaus.

 

Big Bang aus heiterem Himmel

 

Ende August 2010 erlitt meine Mutter einen Schlaganfall unmittelbar, nachdem sie der wöchentliche Besuchsdienst verlassen hatte. Zuvor bestand sie vehement darauf, ein Video zu sehen, auf dem mein verstorbener Vater zu sehen war. Sie wollte ihn unbedingt sehen und sprechen hören. Diesen Wunsch erfüllte ich ihr, auch wenn es technische Schwierigkeiten bereitete, weil die Geräte seit Jahren nicht mehr in Betrieb waren. War es ein Vorahnung auf das, was danach geschah?

 

Nachdem der Besuchsdienst das Haus verlassen hatte, wollte ich sie für die Nacht fertig machen. Ich unterhielt mich mit ihr und räumte dabei im Bereich des Videorekorders auf. Plötzlich sprach sie nicht mehr. Als ich mich zu ihr umdrehte, hing sie mit offenem Mund im Rollstuhl und der Speichel floss über ihre Unterlippe. Sie war nicht mehr ansprechbar und die Augen reagierten auch nicht auf Licht. Sofort reif ich den Notarzt, der innerhalb von knapp 10 Minuten vor Ort war, einen Schlaganfall diagnostizierte und sie mit Sauerstoff und Medikamenten versorgte. Nach einer halben Stunde war sie bereits auf dem Weg ins Krankenhaus. 

 

Erst in den späten Abendstunden war sie wieder halbwegs bei Bewusstsein und verbrachte die anschließenden Tage in der Intensivstation. Zunächst sah es so aus, als habe sie noch einmal Glück gehabt, denn sie trug keine Lähmungen und Sprachstörungen davon. Lediglich die Erinnerung war partiell gestört. In den folgenden Tagen zeichneten sich jedoch erhebliche Koordinationsstörungen und eine sich verstärkende Inkontinenz ab. Hinzu kam eine innere Unruhe, die das Krankenhauspersonal vermutlich mit Beruhigungsmitteln bekämpfte. Im Dämmerzustand entfernte sie sich selbst den Katheter, wobei sie sich die Harnröhre und die Schließmuskulatur aufweitete, was zur permanenten Inkontinenz führte. Auch die dringend notwendigen Infusionen riss sie sich immer wieder vom Arm. Offensichtlich wollte sie dem Harnfluss mit verminderter Flüssigkeitsaufnahme begegnen. Damit geriet sie in einen Teufelskreis, bei dem das durch den Schlaganfall ohnehin stark belastete Gehirn unterversorgt wurde. Die Folge waren Ausfälle in erheblichem Ausmaß. Nach zwei Wochen wurde sie in die Geriatrie verlegt.

 

Dort stellte die behandelnde Physiotherapeutin fest, dass der Ischiasnerv seinen Dienst eingestellt hatte, was bewirkte, dass sich der rechte Fuß immer stärker aufwölbte und nach innen bog. Damit war jede Hoffnung auf eine Lauftherapie geschwunden und man übte mit ihr nur noch das Umsetzen vom Bett auf den Rollstuhl und zurück. Aber auch das war nicht von Erfolg gekrönt und der Chefarzt attestierte, dass sie fortan als schwerer Pflegefall anzusehen sei und am besten in einem entsprechenden Pflegeheim versorgt werden sollte. Einer häuslichen Pflege räumte er keine Chancen ein, weil meine Mutter im jetzigen Zustand das gesamte Pflegepersonal rund um die Uhr beschäftige. Das könne im häuslichen Umfeld nicht geleistet werden.

 

Nachdem meine Mutter diesen Sachverhalt kannte, verschlechterte sich ihr Zustand zusehends. Sie verweigerte die Medikamente, die Nahrungs- und die Flüssigkeitsaufnahme. Dennoch gelang es dem Krankenhauspersonal immer wieder, sie doch zu versorgen. Bei einem meiner fast täglichen Besuche zeigte sie mir gegenüber plötzlich eine aggressive und feindselige Haltung. Sie giftete mich an, dass sie mich verfluche und ich bis an meine Lebensende keine Ruhe mehr haben solle, weil ich sie mit Tabletten umbringen lassen wolle. Ich würde mit den Ärzten und den Schwestern unter einer Decke stecken. Sie nahm keine Medikamente an und meinte, sie wolle sterben. Vermutlich waren die Inkontinenz und das Bewusstsein, ein Pflegefall zu sein, einfach zu viel für sie. Auch sah sie kommen, dass sie sich bald von allem trennen muss, was bisher zu ihrem Lebensinhalt gehörte. Sie war in eine beinahe ausweglose Situation geraten, weil sie nur noch der unermüdlich arbeitende Herzschrittmacher am Leben hielt. 

 

Nun ist die Zeit der Satiren vorbei, auch wenn die Bösartigkeit nach wie vor aus ihr herausbricht. Sie hat den Kampf ihres Lebens verloren und das Ende scheint eingeläutet. Einiges weist darauf hin, dass sie versucht, den Moment des endgültigen Abschieds zu planen. Ihr verdammender Fluch war bereits ein verfrühter Versuch, mich mit schweren Gewissensbissen zurücklassen. Sie kann nicht wissen, dass sie längst in mir alles zerstörte, was derartige Regungen erzeugen könnte. Ich bedauere sehr, dass sie mit ihrer unseligen Veranlagung einem schweren Ende entgegen geht, das sie sich so niemals wünschte. Leider werden die letzten Jahre meine Erinnerung prägen, die ebenfalls so ganz anders verliefen, als ich sie mir gewünscht habe.

 

 

 

Späte Wende

 

Nun stand Weihnachten 2010 vor der Tür und es hatte sich einiges verändert. Meine Mutter befand sich in einem Pflegeheim, in dem sie dauerhaft bleiben wird. Seit ihrem Schlaganfall war ihre Bewegungsfähigkeit sehr eingeschränkt und sie war bei jeder Verrichtung auf Hilfe angewiesen. Das Kurzzeitgedächtnis war erheblich gestört, was ihre unmittelbaren Handlungen beeinflusste. Außerdem ging das Zeitgefühl verloren. Sie erlebte Stunden und Tage wie im Zeitraffer. Meine Mutter wurde von einer fähigen jungen Ärztin betreut, die sich in alle Arztbriefe der letzten 10 bis 12 Jahre einlas und daraus Schlüsse zog. So war ihr sofort der absolut lineare Verlauf der angeblichen Parkinson-Erkrankung suspekt. Im Bemühen, die Medikamente dem völlig veränderten Zustand meiner Mutter anzupassen, wurden mit meiner Erlaubnis die Parkinson-Medikamente abgesetzt, um die Auswirkungen zu ergründen. Als nach drei Wochen absolut keine negativen Veränderungen spürbar waren, wurden die Medikamente endgültig abgesetzt. Zur "Aufhellung" der Psyche und der nachhaltigen Vorbeugung vor Depressionen wurde ein neues leichtes Medikament angewandt, mit dessen Hilfe sie auch den Tag-/Nachtrhythmus wiederfand. Insgesamt war meine Mutter nun ausgeglichen und hatte nahezu keinen Bezug mehr zu materiellen Dingen. Sie sehnte sich nach körperlichem Kontakt und genoss es, wenn sie diesen ausgiebig bekam.

 

Ich besuchte sie jeden zweiten Tag und nach einigen Wochen freute ich mich sogar darauf. Es war, als hätte der Schöpfer höchstpersönlich einen Schalter umgelegt, damit wir wieder zueinander finden. Warum hätte das nicht schon vorher so sein können? Musste erst ein Schlaganfall im Gehirn aufräumen und den Defekt beseitigen? 

 

Neben längeren Phasen der absoluten, jedoch emotional getrübten Klarheit registrierte ich immer häufiger ein Abgleiten in einen Zustand der Demenz. Plötzlich stellt meine Mutter seltsame Fragen, warf die Jahreszeiten durcheinander und sprach von bereits verstorbenen Personen, als würden sie noch leben. Sie bestellte mich für einen zweiten Besuch am gleichen Tag oder erkundigte sich nach Dingen, die wir gerade zuvor besprochen hatten. Sie ähnelte dann einem Kind. Oft half ihr, wenn ich sie dann in den Arm nahm und sie beruhigte. So sehr ich mich auch darüber freute, dass unsere Beziehung nun spannungsfrei war - richtig freuen kann ich mich über den Zustand dennoch nicht. Ich musste mich auf eine neue, ganz andere Mutter einstellen.

 

 

 

Besuchsdienst

 

Mitte August 2011 haben sich Abläufe eingespielt. Im Wechsel zwischen psychischen und physischen Anwendungen, Frisörbesuchen und reinen Pflegeanwendungen ergaben sich die bevorzugten Besuchstage und -zeiten. Eine zusätzliche Orientierung bietet der Speiseplan der Abteilung, in der meine Mutter untergebracht ist. Da sie mit den Händen keinen Druck mehr auf das Besteck ausüben kann, bereitet das Zerkleinern von Fleisch, Fisch und Kartoffeln große Probleme. Meine Mutter muss gefüttert werden. Wegen der angespannten Personalsituation ergeben sich dabei Schwierigkeiten, die letztendlich die betreuten Senioren auszubaden haben. Entweder muss meine Mutter warten, bis alle Essen ausgeteilt sind, oder es findet sich eine Person, die sie außerhalb des Dienstplans füttert. Inzwischen übernehme ich an vier Tagen der Woche diese Funktion und mein Cousin zusammen mit seiner Frau den Besuch an einem Tag der Woche. Damit ist meine Mutter die meistbesuchteste Seniorin der Abteilung. 

 

 

 

Ende des Dramas

 

Ende Dezember 2012 zeichnete sich ab, dass das Ende meiner Mutter naht. Sie war erkältet und es fehlte die Kraft, Schleim abzuhusten. Auch häuften sich die Phasen, in denen sie überhaupt nicht ansprechbar war, so dass ich immer wieder unverrichteter Dinge nach Hause gehen musste. Ab Anfang Januar nahm ich bei jedem Besuch insgeheim Abschied für immer, weil ich nicht wusste, ob ich sie noch einmal lebend antreffen würde. Sie genoss in Momenten relativer Klarheit den körperlichen Kontakt zwischen uns, als wollte sich mich festhalten. Wie es ihr dabei ging, konnte sie nicht mehr ausdrücken. Am 13. Januar traf ich sie zum letzten Mal lebend an und unsere Verabschiedung war herzlich und traurig zugleich. Am 14. Januar 2013 wurde sie nach dem Abendessen zur Ruhe gelegt und gegen 21 Uhr schlief sie ruhig ein. Die Nachricht ereilte mich eine Stunde später. Am nächsten Morgen löste ich den Inhalt der Schränke auf und nahm die Bilder und einige Erinnerungsstücke mit nach Hause. Maria Klee lebte nicht mehr. 

 

Heute bin ich froh darüber, dass wir wieder zueinander gefunden haben und ich keinen Groll hege. Die Auswüchse nicht bewältigter Trauer sollten mit dieser Dokumentation möglichst vielen Menschen in ähnlicher Situation Trost und Hilfe spenden. Vielleicht hilft meine Erfahrung, dass sich derartige Situationen am Ende zum Guten wenden können. Man sollte also die Hoffnung nicht aufgeben.

 

 

DANKE

 

Vielleicht haben Sie nun einen kleinen Eindruck von dem, was sich sonst hinter Wänden und Türen verborgen abspielt. Mir hat das Schreiben geholfen, das Trauma zu bewältigen und ich hoffe, dass Sie nun nicht in gleichem Maße bedrückt sind. Das war nicht meine Absicht. Verstehen Sie es bitte auch nicht als Rechtfertigung meines Verhaltens, das von Außen betrachtet sicherlich Fragen aufwirft. Mir ist klar, dass dieses Ausbreiten interner Familienangelegenheiten nicht üblich ist und eher als Ausnahme angesehen werden muss. Mir stellte sich diese Frage ebenso und ich habe mich dennoch dafür entschieden.

 

Auch wenn diese Entscheidung aus einem Bauchgefühl heraus gefällt wurde, so ist sie auch mit rationalen Gedanken zu erklären. Es ist schön, dass Sie mir zugehört haben! Danke!